: Immer zur Reform fähig
Edgar Wolfrum feiert die Bundesrepublik als „geglückte Demokratie“. Äußerst umfassend zeichnet er ihre Geschichte nach und wird dabei sogar der bis heute umstrittenen Phase von „1968“ wirklich gerecht
Gesamtdarstellungen der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gibt es einige. Dieser neue Versuch hebt sich jedoch durch seine Ausgewogenheit ab und arbeitet stärker als die anderen die Erfolgsgeschichte der zweiten Republik heraus:
„Das Aufregende an der Geschichte der Bundesrepublik ist, dass die Katastrophe ausblieb und dass dieser Staat zu einer der stabilsten und angesehensten westlichen Demokratien geworden ist. Der Weg dorthin war – nach Nationalsozialismus, Zivilisationsbruch und Zäsur von 1945 – alles andere als selbstverständlich. Er ist vielmehr außerordentlich erklärungsbedürftig und im Grunde so ungewöhnlich, dass er uns heute noch in Staunen versetzen muss.“
Ungewöhnlich ist auch, dass der erst 40-jährige Zeithistoriker Edgar Wolfrum dieses Staunen aufbringt. Jüngere Bundesdeutsche nehmen den Erfolg der Republik oft zu selbstverständlich und neigen dazu, ihn angesichts aktueller Schwierigkeiten zu bestreiten. Doch nie zuvor in der deutschen Geschichte hatte ein Historiker die Chance, mehr als fünfzig Jahre deutscher Geschichte mit Frieden, Wohlstand und Zivilität zu assoziieren.
Andererseits ist die Rede von der „success story“ Allgemeingut geworden. Dass Bonn nicht Weimar ist, wie Fritz René Allemann in einem schon 1956 erschienenen Buch postulierte, hat sich mittlerweile herumgesprochen, auch dass dies für Berlin ebenso gilt. Sonderwegsthesen sind out, Niedergangsprophetien gleichwohl nicht passé.
Der Heidelberger Zeithistoriker ist für Inhalt und Form seiner kompakten und konsistenten Darstellung zu loben. Es handelt sich um eine erweiterte Überarbeitung des „Gebhardt“, des chronologisch letzten Handbuchs der deutschen Geschichte, und einem solchen Standardwerk der Universitätslehre sind Abwägung und Synthese des Standes der Forschung gewissermaßen eingeschrieben. Einleitend identifiziert der Autor zehn mögliche Zugriffe auf die deutsche Geschichte nach 1949, die für ihn großenteils westdeutsche Geschichte ist. Am nächsten liegt ihm der Ansatz einer für Deutschland neuartigen Verbindung von Modernisierung und Demokratisierung, am wenigsten das Niedergangsparadigma. Die Bundesrepublik sei „eine reformfähige Wohlstandsgesellschaft wie nur wenige in der Welt geworden. Auch in schwierigen Zeiten hat sie und haben die Deutschen nach innen wie nach außen die Balance gewahrt.“
Für die flüssige, auch für Nichtfachleute gut lesbare Darstellung (die freilich schon ohne Anmerkungen und Anhänge die 500 Seiten überschreitet) hat Wolfrum drei Leitbegriffe gewählt: fortgesetzte Stabilisierung – durchgreifende Pluralisierung – wachsende Internationalisierung. Politik-, sozial- und kulturgeschichtliche Aspekte halten sich die Waage, genau wie der zweite deutsche Staat wird die europäische Ebene nur an wenigen Stellen einbezogen.
Die politische Ikonografie Deutschlands nach 1945 hätte man origineller gestalten können als mit den hier verwendeten Illustrationen. Hervorzuheben ist, dass Wolfrum, der in früheren Arbeiten geschichtspolitische Kontroversen behandelt hat, diese Geschichte als Debattengeschichte konzipiert. Er schenkt also der öffentlich-medialen Rahmung von Ereignissen die notwendige Aufmerksamkeit, ohne selbst „steile Thesen“ aufzustellen.
Am dichtesten und besten gelungen erscheint mir die Darstellung der „zweiten formativen Phase 1959/60–1973“, auf die sich die Zeitgeschichtsschreibung, beflügelt durch die Öffnung der Archive und Zeitzeugenberichte, derzeit am stärksten bezieht. Wolfrums Urteilskraft erweist sich an der Behandlung der zuletzt wieder stark umstrittenen Phase um „1968“, die er, gegen antiquarische Abrechnung und monumentalistische Glorifizierung, so resümiert: „Alles in allem: Durch die Politisierung der Jugend gewann die Demokratie in der Bundesrepublik an Vitalität, vor allem aber gelang eine Integration in das demokratische Staatswesen, das damit seine Reformfähigkeit bewies.“ Das beweist ein Gespür für nichtbeabsichtigte und unerwartete Wendungen der jüngsten deutschen Geschichte.
Wer das Buch durcharbeitet, hat nicht unbedingt Neues über die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik erfahren, wohl aber eine souveräne und anregende Gesamtschau bekommen. Warum die Demokratie letztlich geglückt ist, verliert sich allerdings ein wenig in den Nachbetrachtungen zu allerjüngsten Entwicklungen. Wolfrum legt nahe, dass die Elemente Stabilisierung, Pluralisierung, Internationalisierung schrittweise und in einer für das fundamentale Sicherheits- und Gleichheitsstreben der Deutschen günstigen Weise ineinander gegriffen haben. Das ging, bis auf die Wende, ohne Ostdeutschland, aber nach der Zäsur von 1989/1990 ist eine Fortführung dieser Karriere nicht ohne weiteres anzunehmen.
Zwei Fragen bleiben damit unbeantwortet: Lag der Erfolg der zweiten Republik wirklich an ihrer Demokratisierung, und wie erklärt sich die aktuell spürbare Nervosität? Dass die Republik geglückt ist, kann Wolfrum plausibel machen; ob dabei Demokratie den Ausschlag gegeben hat, bleibt offen. Ohne in den Alarmismus eines Arnulf Baring oder Paul Nolte zu verfallen: Für den weiteren Erfolg des vereinten Deutschland könnte der bis 1989 angelegte Vorrat womöglich nicht ausreichen.
CLAUS LEGGEWIE
Edgar Wolfrum: „Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart“. Klett-Cotta, Stuttgart 2006, 695 Seiten, 29,50 Euro