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Archiv-Artikel

Der Maler von S21

Vann Nath ist einer von sieben Menschen, die die Hölle von Tuol Sleng überlebten

Der Strafgerichtshof

Das Gericht: Auf der Richterbank des Strafgerichtshofs „Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia“ – kurz ECCC – in Phnom Penh sitzen fünf ausländische und sieben einheimische Richter. Das Tribunal ist chronisch unterfinanziert – Kritiker sehen darin den Versuch der Regierung, die Arbeit des Tribunals zu blockieren.

■ Das Urteil: Das bereits mehrfach verschobene Urteil über den mutmaßlichen früheren Folterchef der Roten Khmer, Kaing Guek Eav alias Duch soll jetzt am 26. Juli gesprochen werden. Er ist unter anderem wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt und bekannte sich mehrfach schuldig. Gegen Ende seines Prozesses im November überraschte er jedoch mit der Forderung an das Gericht, ihn freizusprechen, weil er kein ranghohes Mitglied der Roten Khmer gewesen sei. Die Anklage fordert 40 Jahre Haft. Verfahren gegen vier weitere Angeklagte sollen voraussichtlich 2011 beginnen. (MH, afp)

AUS PHNOM PENH MARTINA HAHN

Der Schlag trifft ihn in die Seite. Vann Nath ringt nach Luft. Strauchelt. Fällt in den Schlamm. Seine Finger finden Halt im schmierigen Dreck, er schafft es, aufzustehen. Schafft es, weiterzutrippeln wie die Brüder vor und hinter ihm – mit ihnen auf ewig verbunden durch die Fesseln um Handgelenke und Nacken. Und „zusammengebunden wie Vieh, das zum Schlachthof soll“, sagt Nath.

Dieser Schlachthof ist Tuol Sleng, im Parteikürzel S21, das berüchtigte Foltergefängnis der Roten Khmer. Hierher haben sie Nath eines Nachts 1977 gebracht. In der alten Schule im Herzen Phnom Penhs, der Hauptstadt Kambodschas, bringen sie über 20.000 Menschen um. Nur sieben Gefangene entkommen dieser Hölle. Drei von ihnen leben noch. Einer ist Vann Nath, der Maler. Vor seiner Gefangenschaft pinselte er Filmplakate. Danach, um zu überleben, Pol Pot, den Chef von „Angkar“, der Organisation, von der alle Befehle kamen.

Pol Pot, der „Bruder Nummer eins“, führte das Land in eine Art Steinzeitkommunismus. Er wollte einen radikalmaoistischen Bauernstaat errichten. Einen neuen Menschen schaffen. Wer Brille oder Mönchskutte trug, war ein Feind. Vier Jahre, von 1974 bis 1979, zwangen die Roten Khmer jeden Kambodschaner in eine schwarze Einheitskluft. Zur Arbeit auf die Reisfelder. In Kollektive, wie Angkar die Arbeitslager nannte.

Sie zerstörten Universitäten, Museen, Klöster und entvölkerten alle Städte. Die Krieger, viele trugen eine rote Binde um die Stirn, viele waren selbst noch Kinder, entrissen den Müttern die Babys, den Männern die Frauen, den Brüdern die Schwestern. Als vietnamesische Truppen 1979 das Land befreiten, hatten die Roten Khmer bis zu zwei Millionen Menschen getötet. Ein Viertel der Bevölkerung war ermordet, an Hunger oder an Krankheit zugrunde gegangen. So wie die beiden kleinen Söhne von Nath.

Wer sind deine Kontakte?!, brüllen ihn die Wärter an. Doch Nath kann niemanden nennen, er ist kein politischer Mensch und nach Monaten wässriger Reissuppe nur noch ein Schatten. Und doch, darüber wundert er sich, ist da noch Fleisch an seinem Körper, an dem sich Läuse festsaugen. Das wund wird und eitert, dort, wo ihn die rostigen Eisenstangen und die Elektroschocks treffen. Gewebe, das nicht vernarben will. Schon gar nicht heilen.

Jede Nacht sieht Nath, wie Mitgefangene zum Verhör abgeholt werden und nicht zurückkehren. Hört die Schreie der Gequälten. Erst später erfährt er, dass die Roten Khmer ihre Opfer in den Killing Fields zehn Kilometer vor der Stadt „entsorgen“. Dort, um Munition zu sparen, die Erwachsenen mit Spitzhacken totschlagen. Babys mit dem Kopf voran gegen einen Baum schleudern.

Durch das Malen hat Nath überlebt. Er hat täglich um sein Leben gemalt. Nicht nur vor dreißig Jahren, in Tuol Sleng. Damals hatte Duch, der Chef des Gefängnisses, ihn monatelang gezwungen, Porträts von Pol Pot für die Propagandamaschinerie zu malen. Er malt auch in den Jahren nach der Befreiung, im Grunde bis heute – in einem Land, in dem keiner mehr etwas vom Terror oder der eigenen Schuld wissen wollte. Bis ein ganzes Volk, auch wegen Naths Bildern, spürte, dass es so niemals Frieden finden würde.

Samstagvormittag, die Sonne brennt heiß. Wer heute nach Tuol Sleng kommt, setzt sich erst einmal in den Schatten der Mangobäume im Hof. Atmet an diesem so unschuldig wirkenden Ort tief den Duft ein, den die Blüten verströmen – und blickt auf 14 Gräber. Darin liegen die letzten Ermordeten des ehemaligen Gefängnisses; die Befreiungsarmee hatte die Leichen gleich dort begraben. Heute ist Tuol Sleng eine Gedenkstätte. Alles sieht aus wie damals, als die Roten Khmer vor den vietnamesischen Truppen in die Wälder flüchteten: In den Boden sind Eisenketten eingelassen. Farbe blättert von den Mauern der engen Zellen, in die sich eine faulige Feuchtigkeit gefressen hat. Neu ist nur das Metallschild über dem Eingang von Block „D“. Es zeigt ein lachendes Gesicht. Darüber gemalt ein roter Balken.

Traumatisiertes Volk

Jeden Sonnabend kehrt Nath, heute 62, nach Tuol Sleng zurück. Manchmal nimmt er seine beiden Töchter mit. Sie wurden geboren, nachdem er seine Frau wiedergefunden hatte. Wie schon tausende Male zuvor, erinnert er dann an das, was passiert ist an diesem Ort. Erklärt es den Schülern, die er durch das Museum führt, über seine Bilder, die dort hängen, Szenen der Folter, des Unaussprechlichen auch, „denn egal, wie ich es ihnen sage – Worte treffen die Wahrheit nicht“. Die meisten seiner Zuhörer sind geschockt. Weinen. Fragen ihn: Bruder, wo habt Ihr gelegen? Wollen auch wissen: Warum habt Ihr Euch nicht gewehrt? „Weil wir hungrig waren und schwach, ohne jede Hoffnung“, antwortet ihnen Nath dann mit sanfter Stimme. Auf die andere Frage, wie es geschehen konnte, dass Menschen anderen solches Leid zufügen, darauf hat auch er keine Antwort.

Dieses Leid ist im Tuol Sleng Genozid Museum allgegenwärtig. Die Roten Khmer haben akribisch ihre Taten dokumentiert: Hunderte Schwarz-Weiß-Porträts der Opfer sind im Erdgeschoss ausgestellt. Es sind die Augen der Todgeweihten, die den Besucher nicht mehr loslassen. Die mal starr, mal trotzig, meist aber nur angstvoll und ungläubig in die Kamera blicken. Es sind Bilder von unvorstellbarer Qual. Von Toten, die Körper zerschunden und ausgemergelt. Oder von einer winzig kleinen Hand, die sich in die Jacke der Mutter krallt. Senkt der Besucher dann die Augen, weil er so viel Schmerz nicht mehr erträgt, blickt er auf dieselben lehmbraunen Kacheln, wie sie auf den Fotos zu sehen sind. Kacheln, auf denen sich einst Blutlachen ausgebreitet haben.

Blutig ist Kambodschas Geschichte bis heute. „Wir sind ein krankes und traumatisiertes Volk“, sagt Naly Pilorge. „Da ist so viel Wut und Hass durch den Missbrauch entstanden.“ Die Chefin der Menschenrechtsorganisation Licadho, ein Partner der Welthungerhilfe, sitzt drei Kilometer Luftlinie vom Museum entfernt in ihrem karg eingerichteten Büro. Sie hat den Ventilator auf die höchste Stufe gestellt, er wirbelt wild die tropenheiße Luft durcheinander, und kühlt kaum. „Die Menschen“, sagt Naly, „haben die Gräueltaten nie aufgearbeitet.“

Wieder salonfähig

Mitte der neunziger Jahre hat die postkommunistische Regierung unter Hun Sen eine Generalamnestie ausgesprochen – und damit etliche Exführer der Roten Khmer wieder salon- und regierungsfähig gemacht. Heute sitzen Täter in hohen Positionen – und torpedieren die Aufarbeitung. Den von den Vereinten Nationen unterstützten Strafgerichtshof hat das bitterarme Land erst 2007 eingerichtet – 30 Jahre nach dem Völkermord. Und ein Jahrzehnt nach dem Tod von Pol Pot, der im Grunde unbehelligt starb. Weil nicht nur ein Land, sondern die ganze Welt weggesehen hat.

Und doch, darüber wundert er sich, ist da noch Fleisch an seinem Körper

Verdrängung plus Armut und Korruption – „das ist ein explosives Gemisch“, sagt Naly. Früher habe man gerne zusammen gesungen, sich ständig berührt. Doch das Regime der Roten Khmer habe ganze Dorfgemeinschaften zerstört, heute „leben die Menschen eher nebeneinander als miteinander“. Und sie fügen sich weiterhin Schmerz zu. Meist werde im Stillen gewütet, sagt Naly, in der Familie, im Dorf, auf der Polizeiwache. Werden Opfer des Terrors infolge des Traumas selbst zu Tätern. „Wir haben eine ganze Generation verloren“, sagt sie.

Es ist die Generation der heute 30- bis 50-Jährigen, die in den Arbeitslagern gehirngewaschen wurden. Die Nachbarn denunzierten oder als Kindersoldaten töteten. Die ohne Mutter und Vater aufwuchsen. Erlebnisse wie diese, sagt Andreas Selmeci, Chef des Zivilen Friedensdienstes in Kambodscha, wirken bis heute nach. Auch die Jugend unterdrückt den Schmerz über die traumatisierten Eltern, das kaputte Land, den knurrenden Magen. Drängt ihn weg. Doch der Schmerz sucht sich sein Ventil. Die Folge, sagt Selmeci, „sind brutale Albträume, Gewalt, Sucht, Selbstmord – Stoff für ganz große menschliche Dramen.“

Das nächste Drama in der Geschichte des Landes könnte das Rote-Khmer-Tribunal selbst sein. Es gilt als korrupt und beeinflussbar. Auf der Richterbank sitzen fünf ausländische und sieben heimische Richter. Ihr Urteil – es schließt die Todesstrafe aus – wird bald erwartet. Fünf Täter, alle über 70, sollen zur Rechenschaft gezogen werden – darunter Kaing Guek Eav alias Duch, Naths Peiniger. Sie alle haben, wie Pol Pot, lange in Freiheit gelebt.

Der Prozess wird vom Fernsehen übertragen. Jeder zweite Kambodschaner hat ihn verfolgt. Hat vernommen, wie die Angeklagten jede Schuld leugnen – in einer Sprache, in der das Wort für „ich“ – khnjom – auf Khmer so viel bedeutet wie „Sklave“. Die sich selbst als Opfer, als kleine Würstchen im Machtgetriebe von Angkar stilisieren. Duch etwa, der kaum Reue zeigt. Der sagt, er habe nur Befehle von oben ausgeführt. Dabei wäre es so wichtig, „dass sie die Wahrheit sagen und sich entschuldigen“, sagt Nath, der Maler. „Das würde vom Volk verstanden werden“, sagt auch Friedensexperte Selmeci.

Was bedeutet das Tribunal für Nath? Es ist Abend, Nath ist müde, die Besuche in Tuol Sleng nehmen ihn mit. Er sitzt zusammengesunken auf dem abgewetzten Ledersofa in seinem Atelier, fast wirkt er so leblos wie die Plastikrose auf dem Tisch vor ihm. Die Gemälde an der Wand zeigen nicht nur Folterszenen, sondern auch sanfte Hügel, sprudelnde Bäche. Hat er seinen Tätern vergeben? „Nein“, sagt Nath. „All das Leid kann niemals vergeben werden.“

Und doch wartet er gespannt auf den Richterspruch. Nur wenn die Angeklagten verurteilt werden, „wenn sich zeigt, dass der Prozess fair war und nicht alles nur Lippenbekenntnisse waren, nur dann ist eine Versöhnung möglich.“ Aber Friede im Herzen, sagt Nath, „das kann kein Gericht schaffen.“