Viel Geld macht noch lange nicht gesund

Baustellen der Gesundheitsreform – Teil 5: Deutschland leistet sich in vielen Bereichen eine teure Fehlversorgung

BERLIN taz ■ Rund 400.000 Patienten werden jährlich mit einer Kniearthroskopie behandelt. Bei dieser Mini-OP wird das Gelenk gespült und Knorpel abgetragen. Ein Arzt mit einer Praxis in Berlin kann dafür je nach Fall zwischen 85 und 430 Euro von den gesetzlichen Krankenkassen kassieren, die Krankenhäuser berechnen rund 1.000 Euro. Der Nutzen dieses Eingriffs tendiert überall gegen null. „Das ist eine reine Placebo-Behandlung“, klärt Matthias Perlith auf. Der beratende Arzt für medizinische Grundsatzfragen bei der AOK stützt sich auf eine Studie des Marktführers bei den gesetzlich Versicherten.

Das Beispiel sei ein typischer Fall von Fehlversorgung und illustriere die Qualitätsprobleme des deutschen Gesundheitswesens, so Perlith. Der Sachverständigenrat, der die Entwicklung im Gesundheitswesen überwacht, hat die Defizite im Jahre 2001 in einem Gutachten mit drei Schlagworten beschrieben: Über-, Unter-, Fehlversorgung. Das deutsche Gesundheitssystem ist zwar überdurchschnittlich teuer, übertroffen nur von den USA und der Schweiz. Aber die 145 Milliarden Euro, die im letzten Jahr allein für die gesetzlich Versicherten ausgegeben wurden, werden nicht optimal eingesetzt.

„Wir produzieren Masse statt Klasse“, bilanziert der Sachverständige Karl Lauterbach (SPD). Bei der Lebenserwartung liegt Deutschland beispielsweise nur auf Platz 13. In Schweden und Italien leben die Menschen im Schnitt zwei Jahre länger.

Auch Patienten mit Schlaganfall, Diabetes und Herzinfarkt werden anderswo erfolgreicher behandelt. Die Kosten für die Behandlung der Zuckerkrankheit und ihrer Folgeleiden betragen jährlich 30 Milliarden Euro. Aber: „Diabetiker sind in vieler Hinsicht unterversorgt“, bemängelt der AOK-Mediziner Perlith. Wegen des gestörten Zuckerhaushalts können die Augen getrübt werden oder die Füße abfaulen. Chronisch kranke Diabetiker müssen deshalb regelmäßig zum Gesundheitscheck, doch ließen höchstens zwei Drittel von ihnen ihre Augen regelmäßig kontrollieren, sagt Perlith.

Eine verbesserte Betreuung chronisch Kranker erhoffen sich die gesetzlichen Krankenversicherer von Programmen, bei denen der Arzt mit dem Patienten einen Behandlungsplan entwirft und sich mit weiteren Spezialisten abspricht. Von den Zuckerkranken, die an solchen Disease-Management-Programmen teilnehmen, gingen rund 90 Prozent zum Augenarzt, so Perlith.

Ein Allheilmittel für das schwächelnde Gesundheitssystem seien diese Behandlungsprogramme nicht, moniert der Sachverständigenrat in seinem Gutachten. Die Ursachen für mangelnde Qualität lägen vielmehr im System: Die starre Zweiteilung in Praxen und Krankenhäuser oder ein falsches Vergütungssystem für Niedergelassene, das viele und teure Behandlungen belohnt. Zudem könnten nach einer Umfrage der Unternehmensberatung Booz Allen Hamilton bis zu 90 Prozent aller Diabetesfälle durch einfache präventive Maßnahmen wie gesunde Ernährung und ausreichende Bewegung vermieden werden.

Die Marktliberalen und die Hüter der Lobbyinteressen fordern dennoch in erster Linie, mehr Geld ins System zu pumpen und dabei auch die Kranken stärker in die Pflicht zu nehmen. Der SPD-Abgeordnete Lauterbach, der gegenwärtig in der großkoalitionären Arbeitsgruppe über die Eckpunkte der geplanten Gesundheitsreform verhandelt, runzelt darüber die Stirn. Im deutschen Gesundheitssystem werde bereits heute Zwei-Klassen-Medizin praktiziert. So leben Menschen, deren Monatseinkommen über 4.500 Euro liegt, im Schnitt sieben Jahre länger als Menschen, die weniger als 1.500 Euro verdienen.

ANNA LEHMANN

GESA SCHÖLGENS