: Der Alte von Yokohama
Der deutsche Innenverteidiger Christoph Metzelder ist Realist und doch notorischer Optimist. „Wir haben nicht die Qualität der großen Fußballnationen“, sagt er, „wir brauchen die beste Fitness und einen überragenden Teamgeist“
AUS BERLIN MARKUS VÖLKER
Neulich musste Christoph Metzelder dringend telefonieren. Er hatte ein mathematisches Problem. Der Sänger der Popband Sportfreunde Stiller sollte es lösen. Metzelder verzweifelte an folgender Rechnung: 54 x 74 – 90. Der BVB-Profi hatte in seiner Schulzeit den Mathe-Leistungskurs zwar abgebrochen, aber mit der richtigen Lösung kein Problem. 3906 kam heraus.
Aber was bedeutete diese Zahl? Metzelder rief bei Peter Brugger an. Der Frontmann war gefragt. Die Sportfreunde halten in ihrem aktuellen Clip eine Tafel in die Kamera. Darauf steht 54 x 74 – 90, eine Art Zahlenmystik, die erklären soll, warum Deutschland, Weltmeister 1954, 1974 und 1990, auch heuer Fußball-Champ wird.
Der Münchner Band ist freilich ein Fehler unterlaufen, das musste Brugger einräumen. Der Subtrahend hätte 1990 heißen müssen, nur dann kommt 2006 heraus. Das ist das Jahr, in dem auch Christoph Metzelder Weltmeister werden möchte. Bis 3906 nach Christi kann der Innenverteidiger nicht warten.
Dieses Turnier, das morgen mit dem Eröffnungsspiel der Deutschen gegen Costa Rica (ZDF, Premiere, 18 Uhr) beginnt, könnte das Turnier des Christoph Metzelder werden, so wie die Weltmeisterschaft 2002 sein Turnier wurde. Der damals 21-Jährige hatte sich in der Abwehr unentbehrlich gemacht. Er spielte im Finale in Yokohama gegen Brasilien, damals mit Ramelow und Linke. Heute ist der Dortmunder Teil einer Viererkette – und Ramelow und Linke sind längst vergessen. Seine neuen Abwehrpartner heißen Mertesacker und Huth und Lahm. Sie sind viel jünger als er. Mit seinen 25 Jahren muss Metzelder der Defensive Halt geben. Er verkörpert Fußball-Erfahrung – neben Jens Nowotny, der allerdings nicht den gleichen Einfluss im Team hat.
Jürgen Klinsmann hat früh auf Metzelder gesetzt, obwohl er bei Borussia oft auf der Ersatzbank saß. Bereits nach dem 1:4 in Florenz gegen Italien rief ihn der Bundestrainer an und sagte: Du bist mein Mann, egal, ob du in deinem Verein spielst oder nicht. „Das war kein Freibrief“, sagt Metzelder, „aber ich wusste, dass ich das absolute Vertrauen habe.“ Klinsmann hat offenbar einen Narren am Defensiven aus Dortmund gefressen. Ist Metzelder also ein Führungsspieler von Klinsis Gnaden? „Ich sehe mich nicht in einer herausgehobenen Position“, antwortet er. „Es ist auch die Aufgabe von Per, Arne Friedrich und Philipp Lahm, also der Formation, die sich gerade abzeichnet, dem anderen Rückendeckung zu geben. Alle müssen auf einer Linie stehen, richtig verschieben und ihren Teil zur Kommunikation beitragen. Das gilt genauso für das Mittelfeld, je mehr dort abgeräumt wird, desto weniger haben wir hinten zu tun.“
Mit schönen Worten allein lassen sich keine Tore abwenden. Wie will das defensive Quartett künftig verhindern, dass es zu Patzern und Abstimmungsproblemen kommt? Metzelder sagt: „Wir werden unser Heil in der Offensive suchen. Aber jeder Spieler muss auch diszipliniert nach hinten denken.“
Das hätte Klinsmann, der Expeditionsleiter der „Challenge 06“, wie das WM-Projekt im Jargon des Bundestrainers heißt, nicht besser sagen können. Metzelder wirkt als Klinsmanns Mann ins Team hinein. So ist auch Metzelders Aussage im Fall Ballack zu verstehen: „Dessen Kritik an der zu offensiven Spielweise war keine an der Taktik, sondern am Team. Offensive schließt Verteidigung nicht aus.“
Im Spiel gegen Costa Rica wird der Angriff gut auf Touren kommen, glaubt Metzelder. Viele Tore würde die DFB-Elf im Münchner Olympiastadion schießen, einen Auftakt haben wie 2002 im Auftaktspiel gegen Saudi-Arabien. Seinerzeit endete die Partie 8:0.
Der ehemalige Messdiener aus Haltern ist ein glaubensstarker Mann – und ein notorischer Optimist. Er hat auch keinerlei Probleme, eine Brücke von der WM in Fernost in die Berliner Gegenwart zu schlagen. Das Negativerlebnis bei der Europameisterschaft 2004 blieb ihm erspart; eine Achillessehnen-Verletzung plagte zu der Zeit. Yokohama und Berlin liegen für ihn nah beieinander, nur einen Gedankensprung voneinander entfernt. In der körperlichen Verfassung von damals ist er ohnehin: „In den Trainingssprints war ich jedenfalls schon wieder einer der Schnellsten, die Ausdauerwerte stimmen auch“, sagt er. Das müssen sie auch. Denn: „Wir sind uns alle bewusst, dass wir nicht die Qualität der großen Fußballnationen haben, das kann man auch nicht innerhalb der kommenden vier WM-Wochen kompensieren. Wir brauchen stattdessen die beste Fitness aller Mannschaften und einen überragenden Teamgeist.“
Fehlt nur noch die Begeisterung der Zuschauer, dann ist sie komplett: die heilige Dreifaltigkeitslehre des Klinsmann-Kaders. Fitness mal Zusammenhalt mal Begeisterung = WM-Titel. Nur mit dieser Formel könne es funktionieren. „Wir brauchen uns doch keinen Honig um den Mund schmieren, wir haben nicht die individuelle Qualität von Brasilien, Argentinien, Frankreich oder England“, sagt Christoph Metzelder. „Die Defizite müssen wir mit anderen Qualitäten auffangen.“ Tugenden sind in den kommenden Wochen gefragt, deutsche Tugenden. Damit muss man rechnen.