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Archiv-Artikel

Dr. med. Moloch

VON ANNETTE JENSEN

Alle warten auf den großen Wurf. Nachdem Gesundheitsministerin Ulla Schmidt in den vergangenen Jahren erfolglos am deutschen Gesundheitssystem herumgedoktert hat, sollen nun 16 Fachpolitiker von Union und SPD eine grundlegende Reform erarbeiten. Der Druck ist groß. Zum einen drohen die gesetzlichen Krankenversicherungen mittelfristig zu kollabieren. Zum zweiten haben zahlreiche Lobbyvereine ihre Truppen in Stellung gebracht. Nirgendwo sonst tummeln sich so viele Interessengruppen wie im Gesundheitswesen. Höchste Zeit für einen Blick auf die wirtschaftliche Situation der Hauptakteure, bevor in ein paar Tagen lautes Geschrei von allen Seiten klare Orientierung erschwert.

Kassen verteilen 145 Milliarden Euro

Knapp 90 Prozent der deutschen Bevölkerung sind bei einer gesetzlichen Krankenkasse versichert. Wer arbeitet, muss durchschnittlich 7,5 Prozent seines Bruttolohns abgeben, die Arbeitgeber zahlen seit vergangenem Sommer nur noch 6,5 Prozent. Auch Rentner leisten ihren Beitrag. Insgesamt flossen im vergangenen Jahr 145 Milliarden Euro in die Gemeinschaftskassen.

Allerdings leidet die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) akut an Auszehrung: Wer mehr als 3.937,50 Euro im Monat verdient, darf sich aus der Solidarität verabschieden. Etwa 200.000 Menschen wechseln jedes Jahr zu einer privaten Kasse, wo insbesondere junge, gesunde Gutverdiener ohne Kinder günstige Angebote bekommen. Auch Beamte und die meisten Selbständigen stehen außerhalb. Weil die privaten Versicherungen Ältere und chronisch Kranke ablehnen, sammeln sich in der GKV überdurchschnittlich viele Mitglieder, die hohe Kosten verursachen. Zugleich sinkt in der Solidargemeinschaft die Zahl derjenigen, die viel einzahlen und wenige Leistungen in Anspruch nehmen.

In den vergangenen fünf Jahren sind darüber hinaus 1,6 Millionen sozialversicherungspflichtige Jobs verschwunden, wodurch die Einnahmebasis der GKV weiter zerbröselt. Verantwortlich dafür ist nicht nur die hohe Arbeitslosigkeit, sondern auch die Umwandlung vieler Stellen in Minijobs. Außerdem füllen zunehmend andere Quellen als Löhne und Gehälter die Kassen der privaten Haushalte. Doch die Solidargemeinschaft bekommt nichts ab von dem Geld aus Aktienspekulationen, Mieten oder Zinsen.

Beispiellose Ärzteschwemme

Fast nirgendwo sonst auf der Welt gibt es eine solche Ärztedichte wie in Deutschland. Rund 3.710 Mediziner sorgen in Deutschland für eine Million Menschen. In der Schweiz sind es dagegen nur knapp 3.200 und in Schweden gerade einmal 2.780. Auch die Zahl der Zahnärzte ist hierzulande knapp doppelt so hoch wie in der Schweiz.

Während in den meisten anderen Ländern Fachärzte ausschließlich in Krankenhäusern und medizinischen Versorgungszentren anzutreffen sind, haben die Freiberufler in Deutschland eine aufwändige Parallelstruktur aufgebaut. Auch der offizielle Niederlassungsstopp in vielen Städten konnte ihre exorbitante Vermehrung nicht stoppen: Heute gibt es 26.500 Kassenärzte mehr als Anfang der 90er – das ist ein Plus von 28 Prozent.

Das Gesamtbudget für die Kassenärzte orientiert sich an der allgemeinen Lohnentwicklung, sodass der zu verteilende Kuchen begrenzt ist. Im vergangenen Jahr überwiesen die gesetzlichen Kassen 21,6 Milliarden Euro an die Ärzteschaft; die zahnärztliche Behandlung schlug mit weiteren 10 Milliarden Euro zu Buche.

Dennoch leiden die meisten Mediziner keine Not: Im Westen verdienen sie nach Abzug der Praxiskosten im Schnitt 7.000 Euro pro Monat, im Osten 6.500 Euro, hat das Gesundheitsministerium ausgerechnet. Hinzu kommen die Einnahmen durch Privatpatienten. Allerdings ist die Einkommensverteilung in der Ärzteschaft sehr unterschiedlich. Es gilt die Faustregel: Je höher der maschinelle Aufwand, desto höher die Einnahmen.

Reiche Lobby: die Pharmaindustrie

Der Pharmaindustrie ist es bisher immer gelungen, politische Entscheidungen zur Kostendämpfung schnell zu untergraben. Seit Mitte der 90er-Jahre kassiert sie einen immer größeren Anteil der Krankenkassenbeiträge. 25,4 Milliarden Euro gaben die gesetzlichen Kassen 2005 für Medikamente aus – 13 Prozent mehr als im Vorjahr.

Dieser Erfolg der Arzneimittelhersteller kommt nicht von ungefähr. Kaum eine andere Branche gibt sich bei der Vermarktung ihrer Produkte solche Mühe. Firmen wie Ratiopharm, Novartis, Sandoz und Hexal fahren vielgleisig. Regelmäßig schicken sie Vertreter zu Ärzten, Apothekern und in Krankenhäuser. Jeder dieser Besuche kostet nach brancheninternen Berechnungen 80 Euro: Gastgeschenke in Form von Gratis-Medikamentenpackungen werden erwartet. Doch die zwei Milliarden Euro, die sich die Pharmaindustrie ihr Marketing in Deutschland jährlich kosten lässt, zahlen sich aus: Nirgendwo sonst in Europa gibt es so viel Geld zu holen. Manche Medikamente sind hierzulande viermal so teuer wie in anderen EU-Staaten.

60.000 Arzneimittel sind auf dem deutschen Markt; die Schweizer müssen mit einem Viertel davon auskommen. Permanent produziert die Pharmaindustrie für Deutschland angeblich neue Präparate – tausende Medikamente werden jährlich neu zugelassen. Tatsächlich innovativ waren im Jahr 2003 jedoch lediglich sieben Arzneistoffe, fünf weitere konnten immerhin als Verbesserung der Vorläufersubstanzen identifiziert werden, urteilt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Der Rest sind Scheininnovationen, bei dem die Hersteller nur die Darreichungsform ein bisschen verändern oder eine für die Wirkung unwichtige Komponente hinzufügen.

Ziel des Aktionismus: Die Hersteller können in Deutschland – anders als in anderen Ländern – den Preis für neue Medikamente frei festlegen. Bei älteren Mitteln sehen sie sich dagegen mit billigen Nachahmerprodukten konfrontiert.

Immerhin hat die Regierung jetzt ein Institut gegründet, das neue Arzneimittel bewerten und Festbeträge für bestimmte Wirkstoffe festlegen soll. Eine Positivliste der guten und preisgünstigen Medikamente gilt dagegen seit Jahren als nicht durchsetzbar.

Apotheken unter Preisdruck

Parallel zur Vermehrung der Ärzte haben auch immer mehr Apotheken in Deutschland aufgemacht: Eine versorgt im Schnitt 3.858 Einwohner. In Holland dagegen kommen 9.700 Einwohner auf eine Apotheke.

Etwa zwei Drittel ihres Einkommens erwirtschaften die Apotheken mit dem Verkauf von rezeptpflichtigen Medikamenten. Während sie früher allerdings an teuren Medikamenten kräftig mitverdienten, bekommen sie nun neben einem Festpreis nur noch einen dreiprozentigen Aufschlag auf den Einkaufspreis. Seit zwei Jahren machen ihnen außerdem Internetapotheken Konkurrenz. Bisher dürfen Apotheken allerdings nur von Apothekern betrieben werden. Die Pharmaindustrie drängt darauf, dass diese Regelung fällt.

Wettbewerb der Krankenhäuser

Das meiste Geld überweisen die Krankenkassen an die 2.166 Krankenhäuser, mit denen sie Verträge geschlossen haben: 49 Milliarden Euro waren das im vergangenen Jahr. Abgerechnet wird nach Fallkostenpauschalen, die bisher noch von Krankenhaus zu Krankenhaus variieren. Die Entfernung eines Blinddarms kostet zum Beispiel 1.700 bis 2.300 Euro, eine Herzoperation zwischen 10.000 und 15.000 Euro – egal, wie lange der Patient im Krankenhaus bleibt. Erst 2009 soll in ganz Deutschland pro Fall ein einheitlicher Betrag für alle Krankenhäuser gelten.

Und Qualität spielt bei der Bezahlung keine Rolle: Krankenhäuser, deren Patienten wegen Komplikationen häufig wiederkommen müssen, dürfen erneut kassieren. Gute Leistung wird dagegen nicht belohnt.

Seit Monaten streiken die Krankenhausärzte. Sollten sie sich mit ihren Forderungen durchsetzen, würde das etwa drei Milliarden Euro kosten, hat das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung in Essen errechnet.

Diener Kunde: der Patient

Ach ja, die Kranken. Als Abnehmer der vielfältigen Angebote sollten sie ja eigentlich die Rolle von König Kunde spielen. Doch Kassenpatienten bezahlen nicht direkt; ein Preis-Leistungs-Verhältnis ist für sie nicht spürbar. Deshalb beeinflussen ihre Bedürfnisse das System kaum.

So werden die Kranken vor allem als Kostenverursacher wahrgenommen. Ihr angeblicher Wunsch, möglichst häufig in Wartezimmern zu sitzen, viele Medikamente in sich hineinzustopfen und Ärztehopping zu betreiben, versuchte Ulla Schmidt durch Praxisgebühr und eine Beteiligung an den Medikamentenkosten zu dämpfen.

Inzwischen zahlen Kassenpatienten zusätzlich zu ihren einkommensabhängigen Beiträgen 5,5 Milliarden Euro direkt aus dem eigenen Portemonnaie. Dennoch schmeißen sie jährlich Arznei im Wert von vier Milliarden Euro einfach in den Müll.

Gerade laufen die ersten Modellprojekte für eine integrierte Versorgung an, bei der Krankenhäuser, Arztpraxen und Pflegedienste eng zusammenarbeiten sollen. Die Idee dahinter: Vielleicht ist es ja sogar billiger, wenn sich das System auf die Patienten einstellt und nicht die Patienten verzweifelt versuchen, im System eine bestmögliche Behandlung für sich zu organisieren.

Doch mächtige Interessengruppen werden zu verhindern suchen, dass die Kranken ins Zentrum des Gesundheitswesens rücken. Sobald die Eckpunkte der Reform auf dem Tisch liegen, werden sie sich lautstark zu Wort melden – fast egal, was die Politiker vorschlagen.