Loch im Leak

VERRAT Ein US-Soldat sitzt in Untersuchungshaft. Er soll Wikileaks das Irak-Video, das den Tod von Zivilisten zeigt, gesteckt haben. Der Schaden für die Whistleblower-Seite ist enorm

„Er ist ein Held. Wir bräuchten mehr davon“

WIKILEAKS-SPRECHER DANIEL SCHMITT

VON WOLF SCHMIDT

Mitte April in Berlin. Wikileaks-Sprecher Daniel Schmitt steht auf einer Konferenzbühne und wird von 300 Bloggern und Netzaktivisten bejubelt. „Wir sind die einzige funktionierende Whistleblowing-Plattform der Welt“, sagt er auf Englisch. Und: „Wir haben nie eine Quelle verloren.“

Dieser Satz stimmt nun offenbar nicht mehr. Denn die Enthüllungsplattform Wikileaks hat wohl nicht nur irgendeine Quelle verloren, sondern ihre beste: Den Mann, der ihnen ein geheimes Video aus dem Jahr 2007 zugespielt hatte, auf dem zu sehen war, wie US-Soldaten aus einem Hubschrauber Zivilisten erschießen. Unter dem Titel „Collateral Murder“ sorgte das Video weltweit für Aufregung.

Wie das US-Militär auf Nachfrage bestätigte, befindet sich der 22-jährige Soldat Bradley M., der zuletzt in Bagdad stationiert war, in Untersuchungshaft in Kuwait. Der Vorwurf: Geheimnisverrat. Das Verteidigungsministerium nehme solche Angelegenheiten „sehr ernst“, heißt es in einer Stellungnahme, „weil es unsere nationale Sicherheit, das Leben unserer Soldaten und unsere Auslandseinsätze berührt“.

Wie konnte das passieren? Das US-Technologiemagazin Wired berichtet, dass der berühmt-berüchtigte Exhacker Adrian Lamo den jungen Soldaten an das FBI und das US-Militär verraten habe. In Kurznachrichten und E-Mails habe M. gegenüber Lamo damit angegeben, Wikileaks das Hubschraubervideo und 260.000 geheime Telegramme („Cables“) der US-Botschaft durchgestochen zu haben. „Ich hätte es nicht getan, wenn nicht Leben in Gefahr gewesen wären“, rechtfertigt Lamo gegenüber Wired seinen Verrat. Er habe das Gefühl gehabt, M. habe so viel Geheimmaterial wie möglich „in die Luft werfen“ wollen – und das aus einer Kriegszone. Lamo hielt das für eine Gefahr.

„Ich kann’s noch gar nicht glauben“, sagte ein geschockter Wikileaks-Sprecher Daniel Schmitt am Montagabend. Gleichwohl wollen die Wikileaks-Macher nicht bestätigen, dass Bradley M. die Quelle des Videos ist. Sie wollen es aber auch nicht dementieren. Über Twitter bestreitet die Organisation allerdings, dass sie die 260.000 geheimen „Cables“ bekommen habe – und beschimpft den Exhacker Lamo als „Verbrecher“ und „Manipulator“.

Doch auch wenn die Macher von Wikileaks nichts für das Auffliegen M.s können, wird das Outing negativ auf sie zurückfallen. „Das ist mehr als eine Katastrophe für Wikileaks, das ist der Super-GAU“, sagt Thomas Leif, Vorsitzender der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche. Denn was öffentlich hängen bleibe sei: „Wikileaks ist nicht sicher.“ Das schrecke potenzielle Informanten ab. „Die Auswirkungen sind verheerend“, sagte Leif.

Dabei war die erst vor etwas mehr als drei Jahren gegründete Plattform drauf und dran, die Regeln von Demokratie und Öffentlichkeit radikal zu revolutionieren. Einige wichtige Dokumente sind erst durch Wikileaks öffentlich geworden, etwa Interna zum isländischen Bankenskandal. Andere, wie der Feldjägerbericht zum Kundus-Bombardement, konnten durch die Seite erstmals von allen gelesen werden – niemand musste sich darauf verlassen, dass Bild oder Spiegel einem die richtigen Sätze heraussuchen. Das Video von den Menschenjagdszenen in Bagdad wiederum hat wie kaum ein anderes Dokument den Irrsinn des Irakkriegs gezeigt.

Suche nach Anerkennung?

Und jetzt? Noch ist nicht endgültig geklärt, ob Bradley M. die Quelle für das Bagdadvideo war. Doch der Schaden ist da. „Das ist eine ganz harte Nummer“, sagt Daniel Schmitt, der seinen echten Nachnamen geheim hält. Der Wikileaks-Sprecher kann sich M.s Handeln – sofern er denn wirklich die Quelle sei – nur so erklären: Er habe nach Anerkennung gesucht für etwas, das weltweit für Aufsehen gesorgt habe, und sich dabei leider dubiosen Leuten anvertraut. Das ist doppelt tragisch: Nicht Geheimdienste haben Wikileaks geschadet, sondern ein Informant, der nicht stillhalten konnte, und ein Mann aus derselben Szene, aus der auch Wikileaks kommt.

Wikileaks will nun das Einzige machen, was die Organisation noch tun kann: ihre Anwälte ins Rennen schicken, um den jungen Soldaten Bradley M. aus Potomac, Maryland, zu unterstützen. „Er ist ein Held“, sagt Schmitt. „Wir bräuchten mehr davon.“