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Archiv-Artikel

Anderthalb Steuermythen

Um wettbewerbsfähig zu bleiben, brauchen die Unternehmensteuern nicht zu sinken. Viel wichtiger ist es, den Konzernen ihre „internationale Steueroptimierung“ zu nehmen

Der andere, halbe Mythos ist, dass es ausreicht,Steuerschlupflöcher zu verstopfen

Bald wird Finanzminister Peer Steinbrück die Eckpunkte der geplanten Unternehmensteuerreform vorlegen. Eine Kritik steht jetzt schon fest: Die Reform gehe nicht weit genug, um die deutsche Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Die im Vergleich zu anderen Ländern hohen Sätze der Unternehmensteuern in Deutschland führten dazu, dass große Unternehmen aus steuerlichen Gründen ihre Produktionsstätten und Arbeitsplätze verlagern.

Das Argument kann nicht überzeugen. Die Steuern sind nämlich nur ein Faktor unter vielen. Man weiß, dass Größen wie Marktzugang, Infrastruktur, Arbeitskosten und das Ausbildungsniveau vor Ort die Standortwahl stärker beeinflussen. Allein wegen einer höheren Steuerbelastung wandert ein Betrieb nicht ins Ausland ab.

Leider gibt es für die Steuerpolitiker dennoch keine Entwarnung. Das Problem ist nämlich, dass Unternehmen ihre Produktionsstätten gar nicht ins Ausland verlagern müssen, um Steuern zu sparen. Der teure Umzug von Betrieben und das Anlernen neuer Fachkräfte bleiben ihnen erspart, wenn sie einen guten Steuerplaner beschäftigen.

Die gegenwärtige Struktur des internationalen Steuerrechts erlaubt grenzüberschreitend tätigen Unternehmen, durch Techniken wie die legale Manipulation von betriebsinternen Transferpreisen für Vor- oder Zwischenprodukte oder die geschickte Wahl von Finanzierungsstrukturen ihre Verluste in „Hochsteuerländern“ anfallen zu lassen und die Gewinne in „Niedrigsteuerländern“ bzw. Steuerparadiesen. Anstatt einen Umzug des gesamten Betriebs vorzunehmen, reicht es, einen Ableger in einem liechtensteinischen Briefkasten zu eröffnen oder der Tochtergesellschaft in Irland das Eigentum an Softwarepatenten und die Lizenzeinnahmen daraus zuzuweisen.

Der Steuerwettbewerb ist Realität, aber er funktioniert anders, als viele seiner Fürsprecher behaupten. Staaten konkurrieren weniger um reale Investitionen als vielmehr um die Zuweisung von Gewinnen, ohne dass damit Verlagerungen realwirtschaftlicher Aktivität verbunden wären. Es ist der erste Mythos des Steuerwettbewerbs, dass es um den Erhalt der so genannten Wettbewerbsfähigkeit oder realen Wertschöpfung gehe.

Die Struktur des real existierenden Steuerwettbewerbs ist schädlich, weil sie ungerecht und ineffizient ist. Einige Unternehmen können die guten Standortbedingungen in „Hochsteuerländern“ in Anspruch nehmen – denn dort produzieren sie weiterhin –, sich deren Finanzierung aber entziehen. Darunter leiden nicht nur die öffentlichen Haushalte, sondern auch andere Unternehmen. Vielen mittelständischen Firmen stehen solche steuerlichen Planungsmöglichkeiten nicht zur Verfügung. Sie zahlen mehr, weil die Großen Trittbrett fahren und ihren Beitrag nicht leisten.

Deswegen beschließt die Politik regelmäßig neue Regelungen, die das Ziel haben, die Planungsflexibilität des internationalen Steuerrechts zu beschränken. Man kennt dies als „Stopfen internationaler Steuerschlupflöcher“. Dies soll mit Abwehrgesetzen in einzelnen Ländern bewerkstelligt werden, mit gezielten Maßnahmen gegen eine bestimmte internationale Steuervermeidungstechnik. In den entsprechenden Vorschriften fast aller Industrieländer finden sich Regelungen, die das – legale, aber unerwünschte – Verschieben von Gewinnen ins Ausland erschweren sollen.

Das Problem dieser Strategie: Steuerzahler reagieren darauf mit einer Anpassung ihrer Steuervermeidungsstrategien. Steuerberater finden schon bald eine neue Lücke, durch die sich die steuerpflichtigen Einnahmen ihrer Kunden verringern lassen. So dreht sich eine Aufrüstungsspirale zwischen Steuerzahler und Staat, in der die Politik nur reagiert, aber nie agiert. Ein unerwünschter Nebeneffekt ist, dass das Steuerrecht immer komplizierter wird. Die entscheidende Schwäche der Strategie des Schlupflöcherstopfens ist aber, dass sie unilateral, nur in einem Land, erfolgt. In einer globalisierten Wirtschaft stößt eine solche Politik an inhärente Grenzen.

Dass es Unternehmen überhaupt möglich ist, durch internationales Agieren Steuern zu minimieren, liegt in der Unterschiedlichkeit nationaler Steuersysteme. Was in Land A der Besteuerung unterliegt, muss in Land B noch lange nicht steuerpflichtig sein. Unilaterale Abwehrmaßnahmen ändern aber an dieser Situation nichts Grundsätzliches, wobei es zweifellos besser ist, Schlupflöcher zu stopfen, als sie offen zu lassen. Hierin liegt der halbe Mythos, dem manche Gegner des schädlichen Steuerwettbewerbs anhängen: in der Vorstellung nämlich, das Problem ließe sich mit dem Stopfen von Steuerschlupflöchern beheben.

Dass Firmen Deutschland wegen zu hoher Steuern verlassen, ist der eine Mythos des Steuerwettbewerbs

Wirklich nachhaltig lässt sich schädlicher Steuerwettbewerb deshalb nur regulieren, wenn eine effektive internationale Zusammenarbeit erfolgt. Das Problem ist, dass die Regierungen sich gerade in der Steuerpolitik schwer tun, einen Teil ihrer Souveränität abzugeben, da die Steuergewalt zum Kernbestand nationaler Souveränität zählt. Das Beharren auf der eigenen Steuersouveränität ist aber kontraproduktiv, weil es zu den Unterschieden zwischen nationalen Steuersystemen führt, die sich Steuerzahler zunutze machen können. Das Paradoxe ist, dass die Staaten gerade wegen des Festhaltens an ihrer formalen Steuersouveränität die Kontrolle über ihre Steuereinnahmen verlieren. Faktisch ist die Steuersouveränität längst ausgehöhlt. Statt an der Fiktion nationaler Souveränität festzuhalten, gewinnt man wirkliche politische Autonomie über die Steuereinnahmen unter Globalisierungsbedingungen nur, wenn man legale Souveränität mit anderen Staaten teilt.

Das bedeutet nicht, dass die Lösung des Problems in einer kompletten Harmonisierung der Steuersysteme besteht. Es geht darum, so weit wie möglich sicherzustellen, dass dort besteuert wird, wo reale ökonomische Aktivität stattfindet. Gemessen am derzeitigen Stand des internationalen Steuerrechts ist das ein weitreichendes Ziel. Es gibt allerdings bereits Bemühungen innerhalb der OECD und der EU, die in diese Richtung weisen. Beide Organisationen prangern seit der Mitte der 90er-Jahre bestimmte Steuerpraktiken an, mit denen beispielsweise Steuerparadiese ganz bewusst die Steuerbasis anderer Länder anziehen, ohne dass damit eine reale ökonomische Aktivität verbunden wäre. Die Initiativen haben aber bisher nur zu sehr bescheidenen Fortschritten geführt. Weitreichender sind die Pläne für eine einheitliche Bemessungsgrundlage der Unternehmensbesteuerung in der EU, zu der die Kommission derzeit Vorschläge entwickelt. Wenn man sie richtig ausgestaltet, wäre eine solche Reform ein großer Schritt zur Vermeidung schädlichen Wettbewerbs. Aber dies ist ein schwieriges und langwieriges Geschäft.

Peer Steinbrück sollte es sich dennoch unbedingt zu Eigen machen. Es ist allemal lohnender, als weiterhin zu versuchen, mit Steuersenkungen in einem schädlichen Wettbewerb zu bestehen, den man gar nicht gewinnen kann. THOMAS RIXEN