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Archiv-Artikel

Es begann an einem Sonntag

In dem US-Bundesstaat Texas dreht sich alles ums Erdöl. Das 2009 hier geförderte Öl und Gas brachte 64 Milliarden Dollar ein. Wenn mal was danebengeht, ist es schnell vergessen

AUS AUSTIN (TEXAS) DOROTHEA HAHN

„Ixtoc, Ixtoc …“, sagt die Telefonistin von dem Umweltbüro in der texanischen Hauptstadt Austin in den Hörer: „Das sagt mir gar nichts.“ „Ixtoc …“, erinnert sich ein Mann vom General Land Office, das den texanischen Grundbesitz inklusive Bodenschätze verwaltet: „Damals hatte ich Öl an den Füßen. Aber wenn man in Texas aufwächst, ist das nichts Ungewöhnliches.“ „Ixtoc …“, meint ein US-Küstenwächter an der mexikanischen Grenze: „Davon redet doch schon lange niemand mehr. Seither ist so viel anderes Öl an Land geschwappt.“

Am Abend des 3. Juni 1979 – einem Sonntag – geht die Bohrplattform „Ixtoc I“ in der Bucht von Campeche in Flammen auf. Der „Blow-out-Preventer“ am Seeboden, das Ventil, das unkontrolliertes Austreten von Öl und Gas verhindern soll, versagt. Mit Wucht schießt die schwarze Masse in die Höhe. Ein Funke löst den Großbrand aus. Stunden später versinkt die komplette Plattform in den Fluten.

Es ist der bis dahin größte Unfall der Offshore-Geschichte. Eine Ölpest von nie da gewesenem Ausmaß ergießt sich in das Wasser und an die Küsten. Als Erstes erreicht das Öl die mexikanischen Bundesstaaten Campeche, Tabasco, Veracruz und Tamaulipas. 60 Tage später schwappt es in dem mehr als 900 Kilometer entfernten Texas an Land.

Die Ingenieure brauchen neuneinhalb Monate, um die Lage unter Kontrolle zu bringen: Sie fackeln Öl auf hoher See ab. Sie spritzen Corexit ins Wasser, ein Lösungsmittel, das das Öl in die Tiefe absenken soll. Sie legen schwimmende Barrieren aus. Sie schütten Sand vor Strände. Sie stülpen einen Betondeckel über das Leck am Meeresboden. Und sie versuchen einen „Top-Kill“, bei dem sie unter Hochdruck Schlamm in das Bohrloch leiten, um es von innen zu verstopfen. Erst am 23. März 1980 gelingt es, mit zwei Ersatzbohrlöchern das Leck zum Versiegen zu bringen. Mindestens 3,3 Millionen Barrel Öl sind in den Golf geströmt – knapp 525 Millionen Liter.

Die Wiederholung

31 Jahre danach das Déjà-vu. Als hätte niemand etwas daraus gelernt, scheint sich die Katastrophe mit der „Deepwater Horizon“ zu wiederholen. Punkt für Punkt. Vom Unfallhergang über die erratischen Rettungsversuche bis hin zu dem Umgang mit den öligen Informationen ist alles beim Alten geblieben: 1979 verharmlost der staatliche mexikanische Konzern Pemex die ausgelaufene Ölmenge und hindert Journalisten und Wissenschaftler zum Ort der Katastrophe zu gelangen – 2010 tut es die britische Aktiengesellschaft BP. Bloß die Dimension der neuen Katastrophe ist größer. Schon nach 50 Tagen ist aus dem Leck der „Deepwater Horizon“ mehr Öl in den Golf geströmt als aus dem von „Ixtoc I“ nach 290 Tagen. Das neue Leck liegt 30-mal so tief: 1.500 Meter unter der Wasseroberfläche statt 50 Meter wie bei „Ixtoc I“. Dort können nur ferngesteuerte Roboter eingesetzt werden. Und die Opferbilanz heute ist dramatischer: Auf der „Ixtoc I“ überleben alle Arbeiter. Bei der Explosion der „Deepwater Horizon“ kommen am 20. April 2010 elf Männer um.

Die Verdrängung der ersten großen Bohrplattformkatastrophe beginnt in Texas, als das Leck noch gar nicht versiegelt ist. Im Sommer 1979 rät der texanische Gouverneur Bill Clements seinen Landsleuten: „Lasst uns für einen Hurrikan beten, der das Öl von der texanischen Küste wegtreibt.“ Für den Gouverneur handelt es sich um einen banalen industriellen Zwischenfall. Eine Panne, die behoben werden kann. Zu dem Zeitpunkt ahnen nur wenige Texaner, dass ihr Gouverneur der Eigentümer von „Ixtoc I“ ist. Die an den mexikanischen Mineralölkonzern Pemex vermietete Bohrplattform gehört seinem Unternehmen Sedco. Es ist das größte Offshore-Unternehmen jener Zeit.

Clements muss sich nie vor einem Gericht verantworten. Auch seiner politischen Karriere schadet die Sache nicht. 1987 wird der Republikaner erneut in die Governor’s Mansion in Austin gewählt. Er hat als roughneck begonnen – als Arbeiter auf einer Ölplattform – und hat sich zum Großunternehmer hochgearbeitet. Beides zählt in Texas.

In dem Ölstaat war es schon immer schwierig, Gegner der Offshore-Technologie zu finden. Und heute erst recht. Ex-Senator „Babe“ Schwartz ist einer jener, die 1979 gegen die Ölbohrungen im Golf eintreten. Aus Umweltgründen und aus Sicherheitsbedenken hält er den Import von Öl für „vernünftiger“. Als er am 20. April die Nachricht von der Explosion der „Deepwater Horizon“ hört, denkt der 83-jährige Schwartz sofort 31 Jahre zurück. Schon damals war er sicher, dass ein Unfall wahrscheinlich ist: „Alle Verantwortungsträger in Industrie und Politik wussten das zu 100 Prozent“, sagt er, „die einzige Frage war: wann es passiert.“ Dennoch hat ihn – damals wie heute – die „unglaubliche Stupidität und Nachlässigkeit der Mineralölbranche“ überrascht. Heute erkennt Schwartz diese „Dummheit“ auch daran, dass BP nicht die Ölbekämpfungsboote aus Texas angemietet hat. „Hätten sie es getan“, glaubt Schwartz, „wäre kein einziger Tropfen Öl in die Wetlands vorgedrungen.“

Der demokratische Ex-Senator Schwartz hat in seiner langen politischen Karriere unter anderem für freien Zugang zu den Stränden, für ökologisches Küstenmanagement und für eine höhere Besteuerung der Mineralölkonzerne gekämpft. Er ist stolz auf die texanische Küstenpolitik. Zum Beispiel auf die Verpflichtung, einen „Lotsen“ zu engagieren, der Tankschiffe durch die texanischen Küstengewässer geleitet. „Mit einem solchen Lotsen wäre ‚Exxon Valdez‘ in Alaska nicht passiert“, sagt Schwartz.

Seine Versuche, die Steuer für Mineralölproduzenten zu erhöhen, sind gescheitert. In Texas liegt die Produktionssteuer pro Barrel Rohöl weiterhin bei den 1945 festgelegten 4,6 Prozent. Alaska kassiert stattdessen 15 Prozent. Und verteilt die Dividenden an seine Bewohner. „Texas ist das Dienstmädchen der Mineralölkonzerne“, sagt Schwartz: „Die Mineralölkonzerne lügen, betrügen und plündern: in Alaska und in Texas.“ Aus Erfahrung weiß er, dass die Konzerne sogar versuchen, die niedrige texanische Produktionssteuer zu umgehen. Und er empfiehlt das Prinzip Misstrauen gegenüber jedem Mineralölkonzern: „Wenn ein einziger ihrer Berichte wahrheitsgemäß wäre, würde mich das wundern.“

Die radikale Opposition gegen das Offshore-Drilling hat der Ex-Senator trotzdem aufgegeben. „Ich war ein tree hugger“ – ein Baum-Umarmer – beschreibt er sich selbst rückblickend. Doch heute würde er am liebsten keinen einzigen Tropfen Erdöl mehr importieren. Nicht weil Offshore-Drilling im Golf sicherer geworden wäre, sondern wegen der Attentate vom 11. September und wegen Bin Laden. „Die Araber“, so Schwartz, „haben uns einfach nicht respektiert.“

Die neue Branche

Seit im Jahr 1901 in Spindletop im Südosten von Texas die industrielle Ölförderung begonnen hat, ist der agrarische Bundesstaat zum Öl- und Chemiezentrum der USA geworden. Die neue Branche hat die Landschaft geprägt. Sowohl im Landesinneren als auch auf seinem Kontinentalsockel und weiter draußen im Golf sprießen die Bohrtürme und -plattformen. Längs der Küstenlinie reihen sich Öl- und Gasverladestationen, Raffinerien und einige der größten petrochemischen Industrieanlagen der Welt aneinander. Unter der Erdoberfläche verläuft ein Netz von Pipelines, durch die das Öl und Gas von den texanischen Raffinerien bis an die Ostküste der USA geht. Und rund 80 Kilometer vor der Küstenlinie befinden sich Stationen, an denen die Supertanker andocken, die bis zu 300.000 Rohöl transportieren und zu groß sind, um in die Häfen einzufahren. Kleinere Schiffe übernehmen an den Andockstationen die Ladung und bringen sie zu den Raffinerien an Land.

Die Haupteinnahmequelle

Die Förderung und Verarbeitung von Mineralölprodukten ist die Haupteinnahmequelle des Bundesstaates. 20 Prozent des Öls in den USA und 30 Prozent des Gases kommen aus Texas. Im vorigen Jahr betrug der Wert des in dem Bundesstaat produzierten Öls 30 Milliarden Dollar, der des Gases 34 Milliarden Dollar. Das Offshore-Drilling außerhalb der texanischen 10-Meilen-Küstenzone im Golf ist dabei noch gar nicht mitgezählt.

Die Firmensitze der mächtigsten Mineralölkonzerne der Welt befinden sich in den Wolkenkratzern von Houston. Wenige Tage nach der Explosion der „Deepwater Horizon“ hat in Houston vom 3. bis zum 6. Mai die alljährliche „Offshore Technology Conference“ stattgefunden – die weltweit größte Zusammenkunft der Ölbohrer zur See. Wie in den Vorjahren waren Unternehmen aus aller Welt vertreten. Anders als sonst kommen in diesem Jahr auch Umweltschützer, um bei einer Pressekonferenz von der Ölpest im Golf zu sprechen. Seither sind die Mineralölkonzerne in Houston auf Tauchstation gegangen. Sie meiden direkten Kontakt mit Journalisten und machen stattdessen „Unternehmenskommunikation“. Fast täglich schaltet BP ganzseitige Anzeigen im Houston Chronicle, der örtlichen Tageszeitung. „We will get it done“, steht darin. Und dass die „Tragödie“ der „Deepwater Horizon“ nie hätte passieren dürfen. Ein anderes Unternehmen, das auf Offshore-Bohrungen spezialisiert ist, sponsert im Radio Barockmusik.

Präsenz zeigen und zugleich Zurückhaltung beweisen lautet die Devise des Moments. Die Pläne für die nächste Etappe des Offshore-Drillings liegen bereits in den Schubladen. Ihre Zukunft sieht die Branche im „ultra deepwater“ – in Bohrstellen, die noch tiefer liegen als die explodierte „Deepwater Horizon“. An manchen dieser neuen Ölquellen – darunter „Trident“ im Alaminos Canyon – liegt der Meeresgrund in 3.000 Meter Tiefe.

„Seven Sisters“ heißen die sieben Großen, die in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die globalen Ölgeschäfte beherrschen: BP, Exxon, Mobil, Chevron, Texaco, Gulf und Shell. Mehr als drei Jahrzehnte und zahlreiche Fusionen später sind von den sieben vier übrig geblieben: ExxonMobil, Chevron, Royal Dutch Shell und BP. 1999 fusioniert auch das Offshore-Unternehmen Sedco des texanischen Ex-Gouverneur Clements. Es ist seither Teil von Transocean, dem nunmehr größten Offshore-Plattform-Betreiber weltweit. Ihm gehörte auch die „Deepwater Horizon“.

In der politischen Hauptstadt von Texas ist 31 Jahre danach alles bei den alten Loyalitäten geblieben. In der Mansion in Austin residiert auch jetzt ein Republikaner. Wie sein Vorgänger Clements zu „Ixtoc I“ hat auch Rick Perry zu „Deepwater Horizon“ eine religiöse Erklärung. „Solche Dinge passieren halt manchmal“, sagt der texanische Gouverneur nach der Explosion im Golf: „Man kann sie nicht verhindern. Sie sind ein Akt Gottes.“ Sein Parteifreund Jerry Patterson, Chef des General Land Office in Austin, versucht Panik zu verhindern. „Trotz aller Medienberichte ist vorerst kein Öl in Texas angekommen“, sagt er. Und falls es doch anlanden sollte, wäre auch das keine Katastrophe. Begründung: Das Öl aus der „Deepwater Horizon“-Quelle käme wegen des weiten und langen Weges bis nach Texas nicht als Schlick, sondern „verwittert“ an: in Form von Teerklumpen aus Öl, Sand und Muscheln. Solche Klumpen seien ein „natürlicher Teil des Lebens an der texanischen Küste“, fügt Patterson hinzu. Schließlich gebe es im Golf auch natürliche Öl-Lecks – und das schon lange vor dem Beginn der Offshore-Bohrungen. Außerdem könnten Teerklumpen, die auf einem Strand landen, ganz einfach eingesammelt werden.

Die Kämpferin

Am anderen Ende der texanischen Gesellschaft kämpft eine Krabbenfischerin gegen die großen Aktiengesellschaften in Chemie- und Petrochemie. Diane Wilson lebt in einem Trailer in einem Wäldchen am Ortsrand von Seadrift, einem der letzten Fischerorte der texanischen Küste. Zusammen mit 25 Katzen und Hunden und mit lebensgroßen Holzfiguren von Indianern, die sie zu Ehren ihrer Vorfahren aus dem Volk der Cherokesen aufgestellt hat. Sie ist Fischerin in vierter Generation. Eine der wenigen Frauen in der Branche. Nach der Explosion der „Ixtoc I“ hatte sie ohne Unterbrechung weiter gefischt. Trotz des Öls in ihren Netzen. „Wir müssen die Krabben fischen, wenn sie da sind“, sagt sie, „sonst verschwinden sie nach Mexiko.“

In den vergangenen Jahren sind die Krabben im Golf immer rarer geworden. Die Fischhändler, die sie früher aufkauften, haben Seadrift längst verlassen. „Wir nähern uns dem Ende der Fischerei“, ist Diane Wilson überzeugt. Neben ihrem Trailer hat sie das Wrack des alten Fischerbootes ihres Vaters aufgedockt. Auf der „Chief Stinkinblanket“ hat sie als achtjähriges Mädchen den Krabbenfang gelernt. Aber sie selbst schreibt heute Bücher. Um ihr eigenes Fischerboot ein letztes Mal nützlich zu machen, hat sie es über einer illegalen Dreckwassereinleitung der Chemiefabrik „Formosa Plastics“ in die Bucht versenkt. Es war eine einsame Protestaktion. Mit Erfolg: Die Plastikfabrik muss seither ihre Abwässer filtern.

Wegen solcher Aktionen ist Diane Wilson in dem tropisch heißen Gebiet zwischen San Antonio Bay und Lavaca Bay gefürchtet. Ihre Gegner nennen sie „Teufelskatze“ und „gefährliche Frau“. Umgekehrt erlebt sie eine Gesellschaft, in der Politiker, Manager und andere White-Collar-Männer keine Fischer mögen. „Das ist hier eine Art Klassenkampf“, sagt Diane Wilson: „Fischer gelten als dumm, grob und ungebildet.“ Sie lässt sich nicht einschüchtern: Sie hat sich in der Fabrikanlage von Union Carbide angekettet, trat in den Hungerstreik und hat zusammen mit Vietnamesen, die nach dem Vietnamkrieg in Seadrift angesiedelt worden sind, demonstriert. Jetzt hat sie BP im Visier. Sie will – dieses Mal zusammen mit anderen Umweltaktivisten – so lange nachhaken, bis die Gefahr im Golf gebannt ist. „In Texas“, sagt Diane Wilson, „gibt es keinen Umweltschutz.“

Dabei verfügt Texas heute über eine Institution, die auf Ölverschmutzungen spezialisiert ist. Die „Oil Spill Prevention“ hat fünf Wachposten in den Counties längs der Küsten und 60 Mitarbeiter, die permanent auf der Suche nach Öl im Wasser sind. An die 1.000 Mal sind sie im vergangenen Jahr um Hilfe gerufen worden. Oft sind es die Verursacher selbst, die bei der „Oil Spill Prevention“ anrufen. Damit können sie eine Strafe vermeiden und müssen nur die Reinigung bezahlen. Bei einem Drittel der öligen Verunreinigungen freilich sucht die „Oil Spill Prevention“ vergeblich nach den Verursachern. In diesen Fällen wird die Reinigung aus einem Fonds finanziert, in den die Ölindustrie einen Pflicht-Obolus einzahlt: 1,3 Cent pro Barrel Rohöl, der in Texas an Land kommt.

Die „Oil Spill Prevention“ ist 1991 eingerichtet worden. Nicht etwa wegen „Ixtoc I“, sondern im Gefolge der Ölverschmutzung durch den Tanker „Exxon Valdez“ in Alaska. Zum selben Zeitpunkt entstand in Texas auch die „Ölverschmutzungsschule“, in der Mitarbeiter verschiedener öffentlicher Dienste für den Umgang mit Öl-Unfällen ausgebildet werden.

„Ist das Leck unter Kontrolle und versiegelt?“ lautet die erste Frage von Jay Veselka, wenn er an den Ort einer Ölverschmutzung kommt. Erst wenn das geklärt ist, machen die Reinigungsarbeiten Sinn, erklärt er. Aus dem Bohrloch der „Deepwater Horizon“ strömt seit 50 Tagen unkontrolliert Öl in den Golf. Und die Verantwortlichen bereiten die Öffentlichkeit gerade darauf vor, dass sie dieses Leck nicht vor dem Herbst versiegeln können. So haben die Ölwächter in Corpus Christi ihre Patrouillen verstärkt – sowohl per Boot als auch vom Hubschrauber aus. In ihrem Besprechungsraum in Corpus Christi hängen Bilder, die zeigen, wie sich der Ölteppich bewegt. Er ist Texas näher gerückt. Aber niemand weiß, was noch passieren wird. Im Golf von Mexiko hat die Hurrikan-Saison begonnen. Damit sind die Winde unberechenbar geworden. Sie können sowohl von Houston gen Süden wehen. Als auch von Mexiko nach Norden. Vorerst hofft Ölwächter Jay Veselka, dass Texas von der „Deepwater Horizon“ verschont bleibt. Oder dass zumindest sehr viel Zeit vergeht, bevor das Öl in Texas an Land geht. „Je länger es im Meer bleibt, desto verwitterter wird es sein“, sagt er, „und umso leichter können wir es von den Stränden sammeln.“ Anders als der Nachbarbundesstaat Louisiana, wo die vorgelagerten Inseln der Erosion zum Opfer gefallen sind und das Öl bereits in die empfindlichen Feuchtgebiete der Wetlands schwappt, ist die texanische Küste auf fast der kompletten Länge durch den dünnen Streifen einer vorgelagerten Sandinsel geschützt. Das hilft. Die Erfahrung zeigt, dass Öl nirgends leichter entfernt werden kann als von Sandstränden.

Das Tiefenöl

Dass Ölteppich-Beobachtungen aus dem Hubschrauber irreführend sein können, erlebt Sharron Stewart im Sommer 1979. Nach dem Unfall der „Ixtoc I“ überfliegt die junge Frau immer wieder mit den Leuten von der Küstenwache den Golf. Ziel ist es, die Bewegungen des Ölteppichs kartografisch zu erfassen. Sharron Stewart zeichnet, was sie von oben sieht. Doch unten ist die Lage oft ganz anders. Umweltschützer, die Netze zwischen den vorgelagerten Sandinseln spannen, stellen fest, dass unter der sauber scheinenden Wasseroberfläche, in der Tiefe Öl in ihre Netze geht. Für diese Verlagerung des Öls sorgt das Lösungsmittel Corexit, das sowohl 1979 als auch heute im Golf eingesetzt wird. Es macht das Öl unsichtbar und zugleich unberechenbar. Oft landet es noch früher als die Ölteppiche an der Oberfläche an den Küsten.

Thomas Shirley, Biologe und Spezialist für Biodiversität am Harte-Institut der Universität Texas, kann von seinem Schreibtisch in Corpus Christi aus beobachten, wie auf der anderen Seite der Bucht, in einer Werft, Bohrinseln entstehen. In diesen Tagen erhebt sich eine neue Plattform auf vier riesigen „Beinen“. Schon bald kann sie gewässert und in Richtung offenes Meer bewegt werden. Shirley hat ein gespaltenes Verhältnis zum Öl. Sein eigener Vater hat als roughneck gearbeitet. Und er selbst hat sein erstes Geld als Student mit gut bezahlten Jobs auf Plattformen verdient. Doch für alle Lebewesen gilt, und da ist Shirley kategorisch: „Öl ist schlecht für die Gesundheit.“

Im Golf von Mexiko leben 15.419 verschiedene Arten von Tieren – darunter viele, die noch gar nicht wissenschaftlich beschrieben sind. Zu der Artenvielfalt gehören zwei Millimeter kurze Würmer ebenso wie durchsichtige Quallen, meterlange Wale und 200 Jahre alte Schildkröten, die schon unterwegs waren, als noch kein Mensch daran dachte, Öl aus der Tiefe zu holen. „Es werden Tiere in der Ölpest umkommen“, sagt Shirley, „aber auch die überlebenden werden leiden. Ihr Wachstum wird sich verlangsamen und sie werden sich weniger oder gar nicht mehr fortpflanzen.“ Für Shirley ist jedes verschwundene Lebewesen eine Katastrophe. Er vergleicht das empfindliche Gleichgewicht im Meer mit einer alten Uhr: „Wenn man die auseinandernimmt und dann ein paar kleine Zahnrädchen weglässt, funktioniert sie nicht mehr.“

Ein paar Türen weiter macht sich der Direktor des Harte-Instituts schwere Vorwürfe. Larry McKinney erinnert sich insbesondere an ein Hearing im Jahr 2007, an dem er und ein anderer Biologe sowie 12 Geologen und Ingenieure der Offshore-Industrie teilgenommen haben: „Während wir vor neuen Gefahren bei immer tieferen Bohrstellen warnten, versuchten sie die technische Machbarkeit von Offshore-Bohrungen in drei Kilometer Tiefe nachzuweisen.“ Heute meint der angesehene Meeresbiologe McKinney: „Wir haben katastrophal versagt. Wir haben uns von den guten Sicherheitsstatistiken der Offshore-Industrie blenden lassen. Und wir haben es versäumt, zu fragen, was passiert, wenn ein Unfall in 1.500 Meter Tiefe passiert.Wir hätten viel lauter ‚Halt‘ rufen müssen.

Besondere Sorgen macht sich McKinney wegen zwei riesiger „Plumes“, die sich nach der Explosion der „Deepwater Horizon“ im Golf von Mexiko in Bewegung gesetzt haben. Es sind kompakte schwarze Schwaden aus kleinen Tropfen von Öl, aus deren Innerem es für tausende von Tieren kein Entkommen gibt. Eine der beiden „Plumes“ ist groß wie der ganze Eriesee, die zweite „Plume“ hat eine Oberfläche von der Größe des halben Eriesees. Beide sind bis zu 100 Meter dick. Solche „Plumes“ sind bei früheren Ölpesten nicht beobachtet worden. Niemand weiß, was in ihrem Inneren passiert. Und wohin sie sich entwickeln werden. Es ist nicht einmal klar, wie sie entstanden sind. Ob sie ein Resultat der Reaktion von Öl und Gas mit dem kalten Wasser am Boden des Golfes sind oder ob auch der massive Einsatz von Lösungsmitteln an der Bohrstelle zu der Entstehung der kompakten schwarzen Masse beigetragen hat, die sich jetzt durch den Golf bewegt.

„Ixtoc I“ war eine Katastrophe im Golf. Es war auch eine verpasste Chance. Anstatt Lehren für künftige Unfälle an Offshore-Bohrlöchern zu ziehen, ist der Unfall schnell in Vergessenheit geraten. „Niemand wollte hören, was wir zu sagen hatten“, erinnert sich die Umweltschützerin Sharron Stewart. Sie ist auch sicher, dass niemand in den späten 70er Jahren eine Diskussion über die Zukunft der Offshore-Bohrungen führen wollte. Zwei Jahre nach dem „Ixtoc I“-Unfall registrieren die Fischer im benachbarten Mexiko ein besonders gutes Krabbenjahr. Die Offshore-Industrie wertet das als Beleg dafür, dass „Ixtoc I“ keinen bleibenden Schaden angerichtet hat und dass die Selbstheilungskräfte im Golf von Mexiko ausreichend groß sind. An der Südküste von Texas tauchen die vorübergehend ausgebliebenen Touristen wieder auf. Und statt der Teerklumpen aus dem Unfall der „Ixtoc I“ rollen seither die Reste von anderen Ölverseuchungen im Golf an Land.

31 Jahre danach ist die Lage nicht einfacher geworden. Der Energie- und Benzinkonsum der USA ist weiter gestiegen. Auf dem Festland in Texas ist der größte Windenergiepark der USA entstanden. Aber den Elan der Offshore-Industrie bremst das nicht. Sie drängt weiter hinaus aufs Meer. Mit immer größeren Anlagen. Und immer tiefer gelegenen Ölvorkommen. Im Golf von Mexiko sind mehr als 4.000 Offshore-Bohrstellen in Betrieb. Jedes Jahr kommen 100 neue hinzu.