piwik no script img

Archiv-Artikel

Politiker sein ist ansteckend

POLITIK Rund 200 Jugendliche schlüpfen im Dezember in die Rollen von Abgeordneten und spielen Sitzungen des EU-Parlaments nach. Dabei passiert es schon mal, dass die Grenzen zwischen Nachahmung und Realpolitik verschwimmen. Am Sonntag startet die zweite Runde

Die Simep

■ An zwei Wochenenden im Dezember (8./9. sowie 15./16.) veranstaltet der Verein Junge Europäische Bewegung Berlin-Brandenburg die Simulation Europäisches Parlament (Simep) in Berlin. Dazu schlüpfen 400 Schülerinnen und Schüler in die Rolle von Abgeordneten des Europäischen Parlaments und diskutieren im Bundestag und im Berliner Abgeordnetenhaus über aktuelle Themen.

■ Teilnehmen können Schülerinnen und Schüler der 10. bis 13. Klassen. Die Teilnahme ist kostenlos und erfordert keine Vorkenntnisse. Die Simep wird durch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung gefördert, wurde mit dem Europäischen Bürgerpreis 2013 ausgezeichnet und findet dieses Jahr bereits zum 15. Mal statt. Mehr Informationen unter www.simep.eu. (gs)

VON GESA STEEGER

Der junge Abgeordnete aus Tschechien spielt gelangweilt auf seinem Smartphone herum, seine grellbunte Krawatte ist ein wenig verrutscht. Neben ihm, auf dem Boden, sitzt eine Gruppe kichernder schwedischer Parlamentarierinnen. Sie ziehen ihren Lippenstift nach und schießen Handyfotos von sich. Mittagspause bei der Simulation des Europäischen Parlaments, der Simep, im Berliner Abgeordnetenhaus.

Wo normalerweise Parlamentarier ihrem Tagesgeschäft nachgehen, lümmeln an diesem Morgen knapp 200 Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren und quatschen. Auf einem Sofa mitten unter ihnen sitzt Felix Brannaschk und schaut sich zufrieden lächelnd um: Der 23 Jahre alte Jurastudent ist Vorsitzender des Vereins Junge Europäische Bewegung Berlin-Brandenburg, die die Schüler aus ganz Deutschland nach Berlin eingeladen hat, um zwei Tage in die Rolle europäischer Parlamentarier zu schlüpfen.

Verstehen und erleben

Simep, meint Brannaschk, sei eine einzigartige Gelegenheit für Jugendliche, um europäische Politik wirklich zu verstehen und zu erleben. Jeder Teilnehmer wird nach einer Interessensbekundung einer Fraktion und einem Land zugeteilt, zur Vorbereitung erhalten die Jugendlichen vorab Informationen darüber. Der erste Tag der Simep findet im Bundestag, der zweite im Berliner Abgeordnetenhaus statt.

Diskutiert werden aktuelle Fragen der Europapolitik: Dieses Jahr geht es um die europäische Außen- und Sicherheitspolitik, um Datenschutz und um die Zukunft des Euro. Grundlage bilden dabei Berichtsentwürfe, die den Originalen im Europäischen Parlament nachempfunden sind.

Zwei Tage lang bilden die Schüler Ausschüsse, diskutieren, formulieren Forderungen und stimmen ab. Dabei werden sie von wirklichen Europapolitikern unterstützt: Am ersten Tag seien bereits EU-Kommissar Günther Oettinger und Jan Phillip Albrecht von den Grünen vorbeigekommen, sagt Brannaschk. Höhepunkt der Veranstaltung sei aber immer das Abschlussplenum, das jetzt gleich nach der Mittagspause beginne: „Da geht es immer hoch her.“

Pauline Lunow, blonde Mähne, Kapuzenpulli, sitzt mit anderen Mitgliedern ihrer Fraktion der Grünen/Freie Europäische Allianz in einer Ecke des Abgeordnetenhauses auf dem Teppich und berät. Die Stimmung ist angespannt: Der erste Punkt der anstehenden Sitzung ist die europäische Außenpolitik, Lunows Fraktion hat einen Änderungsantrag zu einer Forderung des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten gestellt.

Es geht um die Rolle der EU bei der Bewältigung regionaler Krisen vor dem Hintergrund des Syrienkonflikts. „Wenn unser Antrag durchkommt“, erklärt Pauline Lunow, „wird es einfacher sein, schneller humanitäre Hilfe vor Ort zu leisten. Eine militärische Intervention wäre dann wirklich die allerletzte Option.“

Die 18-jährige Berlinerin nimmt dieses Jahr bereits zum zweiten Mal an der Simep teil. „Es ist interessant, europäische Politik endlich mal live zu erleben“, findet die Schülerin. Das sei gut für das Verständnis wirklicher Politik und helfe manchmal auch in der Schule weiter.

Für die Grüne Fraktion habe sie sich beworben, weil das die Fraktion sei, die ihren eigenen politischen Vorstellungen am ehesten entspreche. Von der aktuellen europäischen Politik hält sie allerdings wenig: „Die ist doch total egozentrisch“ – man müsse sich nur mal die Flüchtlingspolitik anschauen. Auch die Mitglieder der konservativsten Fraktion im Europäischen Parlamen, der Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR), sagt die Schülerin, seien ihr nicht ganz geheuer: „All diese Jungs im Anzug, die vollkommen ernst für ihre Sache einstehen. Irgendwie schon fast gruselig.“

Ein Gong erschallt, die Jugendlichen strömen in den Plenarsaal. Die Sitzreihen sind nach Fraktionen aufgeteilt: links der konservative Flügel aus EKR und Europäischer Volkspartei (EVP), in der Mitte die Allianz der Liberalen und Demokraten (Alde) und die Grünen, auf der rechten Seite des großen hellen Saals die Abgeordneten des linken Flügels: Sozialisten und Demokraten (S&D) und die Konföderation der Vereinigten Europäischen Linken (KVEL). Ganz vorne die Mitglieder des Präsidiums, dem auch Felix Brannaschk angehört.

In den Reihen daneben sitzen freiwillige Helfer vom Verein der Jungen Europäischen Bewegung in blauen T-Shirts, einer von ihnen ist Benedikt Margraf. Der 17-Jährige wird nicht müde, von der Simep zu schwärmen: Gestern etwa habe er die Teilnehmer, die in die Rollen der rumänischen Abgeordneten schlüpfen, über die Europapolitik Rumäniens aufgeklärt, erzählt er.

Auf die Idee, freiwillig ein Wochenende als Helfer auf der Simep zu verbringen, sei er letztes Jahr gekommen. Damals habe das als Teilnehmer so viel Spaß gemacht, dass er in den Verein eingetreten sei. Ob er sich vorstellen könne, selbst mal in die Politik zu gehen? „Auf jeden Fall“, sagt Benedikt. Auch die politische Ausrichtung stehe schon: „Eher Grüne, auf keinen Fall CDU oder so“.

Der junge Mann, dessen Anzug so perfekt sitzt wie eine typische Politikergeste, beschwört ein konservatives Europa: christlich, eigenverantwortlich, marktorientiert

Als Erstes schickt die konservative EVP einen ihrer Abgeordneten ans Mikrofon. Der junge Mann, dessen Anzug so perfekt sitzt wie die typischen Politikergesten, beschwört ein Europa im Sinne seiner Fraktion: christlich, eigenverantwortlich, marktorientiert. Im rechten Flügel brandet Applaus auf, die moderateren Fraktionen hüllen sich in eisiges Schweigen. Als der Abgeordnete der S&D-Fraktion mehr Demokratie und Kompromissbereitschaft von allen Fraktionen fordert, tönen zynische Zwischenrufe aus dem rechten Lager. Die Grenzen zwischen Simulation und Realpolitik beginnen zu verschwimmen.

Dann steht die Rolle der EU im Syrienkonflikt auf der Tagesordnung. Die konservative EKR fordert, dass militärische Interventionen einfacher möglich werden, der linke Parlamentsflügel ist strikt dagegen.

Die 18 Jahre alte Elisabeth Müller sitzt in der letzten Reihe im S&D-Block und verfolgt das Geschehen. Rede folgt Gegenrede, Zwischenrufe hallen durch den Saal. Weiß sie schon, wie sie über den Antrag der EKR abstimmt? „Ich bin dagegen“, sagt Elisabeth entschieden – „und das nicht nur, weil ich hier eine S&D-Abgeordnete aus Dänemark spiele. Auch persönlich halte ich nichts davon.“

Dass die Simep aktuelle Themen behandle, sei super, findet sie: „In der Schule gibt es höchstens mal eine ‚aktuelle Stunde‘ im Politikunterricht.“ Das sei aber alles sehr oberflächlich und gehe nicht tief genug – da sei Simep um Längen besser.

Die Präsidentin ruft zur finalen Abstimmung über den Antrag der EKR. Der rechte Block stimmt zu, als die Gegenstimmen aufgerufen werden, hält Elisabeth Müller ihre Abgeordnetennummer in die Höhe – gemeinsam mit dem gesamten linken Flügel und einer Abgeordneten der EVP.

Aufschrei im rechten Block, frenetischer Jubel im linken. Die Präsidentin mahnt energisch zur Contenance. Über dem Geschehen, hoch oben unterm Dach, flattert derweil ruhig die blaue Flagge der Europäischen Union.