Authentische Türkinnen

Der Streit zwischen Feridun Zaimoglu und Emine Sevgi Özdamar zeigt, wie sehr die so genannte Migrantenliteratur in der biografischen Falle sitzt. Sie spielt das Spiel der Typisierungen mit

VON ZAFER SENOCAK

In der Vorstellungswelt der deutschen Literaturkritik gibt es kaum noch den einzelnen Türken. Vielmehr hat sich eine Sehweise etabliert, die aus einzelnen Biografien heraus eine Typisierung des Türken destilliert. Die Unterscheidungskriterien sind nicht mehr individuell, sondern gruppenspezifisch. „Der Türke“ oder „die Türkin“ kommt von der Stange, er oder sie ist Massenware geworden.

Zwei Typisierungen drängen sich besonders auf. „Der muslimische Mann“ und die „türkische Frau“ aus der anatolischen Provinz. Ganz ohne Typisierung kommt keine Soziologie aus. Die Menschen nach ihrer Herkunft, ihren Lebensanschauungen, nach Geschlecht, Alter und sozialem Status zu ordnen gehört ohne Zweifel zu der Methodik der Sozialwissenschaften. Was aber passiert, wenn Ordnungskriterien nur noch Herkunft und Geschlecht in den Vordergrund rücken? Derartig grobe Typisierungen führen zu emotionalen Barrieren, die rational nicht mehr oder nur schwer aufzubrechen sind. Rassistische Ideologien wie der Antisemitismus bedienen sich gerne solcher Typisierungen. Was die „Türken“ betrifft, gehen die sogar über die Sozialwissenschaften hinaus.

Längst ist grobe Vereinfachung ein Bestandteil literarischer Wahrnehmungen und kanalisiert inzwischen auch die Fantasie. Die Bilder in den Köpfen produzieren Bilder in den Texten und umgekehrt. Ein Absicherungs- und Bestätigungsmuster verdrängt das Überraschende, das Unbekannte. Das vermeintlich so Fremde ist in Folge dessen nichts anderes als das, was schon längst bekannt ist.

Doch sollte Literatur nicht gerade gegen solche verallgemeinernden und vereinfachenden Sichtweisen arbeiten? Wäre ein solches Arbeitsprinzip nicht ihre eigentliche Arbeitsgrundlage? Die so genannte Migrantenliteratur, speziell jene, die von Autoren geschrieben wird, die aus der Türkei stammen, sitzt schon länger in der biografischen Falle.

Der jüngste Streit zwischen Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimoglu hat dies noch einmal illustriert. Die Frage, ob der eine von der anderen abgeschrieben hat, ist dabei unerheblich (siehe den Kasten auf dieser Seite). Doch der Umstand, dass ein Journalist, der einer solchen Frage nachgeht, bei der Hauptfigur eines Romans anrufen kann, ja anrufen muss, um ihre Authentizität bestätigt zu bekommen – genau dies hat die FAZ getan –, macht nachdenklich. Meint man wirklich, so leicht Biografien und literarische Figuren in eins setzen zu können?

Ebenso irritierend ist die Gewissheit jener, die glauben, sie wüssten nach der Lektüre der Romane türkischer Autoren Bescheid über die türkische Frau aus der anatolischen Provinz. Das Interesse an dem, was als fremd empfunden wird, ist dabei nicht das Problematische. Es ist eine Selbstverständlichkeit. Problematisch aber wird es, wenn Ahnungen und Vorstellungen zum Wissen mutieren und als Gewissheit in Debatten und politischen Äußerungen auftauchen. Der Autor wird als Kronzeuge einbestellt, in einen Schauprozess, mit den immer gleichen Protagonisten und einem vorhersehbaren Ablauf, einem von vornherein feststehenden Urteil. Doch er hat auch Möglichkeiten, dieses Spiel zu unterlaufen, Denk- und Deutungsmuster aufzubrechen, festgefahrene Sichtweisen zu konterkarieren, Widersprüche aufzudecken, mit Zwischentönen zu arbeiten und so die Vielschichtigkeit des Lebens zu erspüren. Gerade in einem von fixen Bildern und verengten Perspektiven gezeichneten Umfeld wird die differenzierende Eigenschaft der Ästhetik in besonderem Maße herausgefordert. Genau dies wird derzeit wohl zu wenig bedacht.

Der Realismus, der hier und da der literarischen Sprache unterstellt wird, ist dagegen zumindest fragwürdig. Literatur ist immer ein Spiel mit der Realität und eine erhitzende Gegenkraft zu ihren eingefrorenen Deutungsmustern in der Imagination. Ihr liegt eine Ausweitung des Realitätssinns inne. Das hat auch damit zu tun, dass sich literarische Figuren nicht beim Einwohnermeldeamt registrieren lassen. Die Figuren haben einen Autor oder eine Autorin, einen Künstler, der sie nicht nur zu dem gemacht hat, was sie sind, sondern auch zu dem, was sie sein könnten. Ihrerseits wirken sie aber auch auf den Autor ein. Zwischen Autor und seinen literarischen Figuren gibt es immer eine Wechselwirkung, eine kreative Spannung. Wenn diese Spannung aufgelöst wird, wird die Sphäre der Fiktion verlassen, beginnt die dokumentarische Ebene. Tag für Tag sind wir durch die Massenmedien mit diesem dokumentarischen Angebot konfrontiert. Brauchen wir es auch in der Literatur?

Die Literaturkritik in Deutschland ist viel zu belesen, um diese Aspekte nicht zu kennen. Dass die Literatur von Migranten, insbesondere von Autoren aus der Türkei, mit speziellen Augen gesehen wird, hat eher mit der Integrationsproblematik in Deutschland zu tun. Die Kunst wird hier zum Nebenschauplatz der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, ein Instrument der politischen Haltung gegenüber den Fremden. Die Typisierung ist ein unverzichtbarer Bestandteil einer Politik, die permanent Ressentiments schürt und eine Kultur des Unterschieds pflegt.

Wären die Integrationsforderungen, die in der letzten Zeit so laut zu hören waren, ernst gemeint, dann hätte die in den Medien produzierte und von weiten Teilen der Gesellschaft bereitwillig absorbierte Konstruktion der Türken zu einer geschlossenen fremden Masse keine Chance. Dann würde man auch erkennen, dass auch in den Fünfziger- oder Sechzigerjahren Menschen in der Türkei Individuen waren, die sich nicht so einfach unter irgendeinem Oberbegriff subsumieren lassen. Dass gerade im Spannungsverhältnis zwischen Provinz und Großstadt, zwischen Großfamilien und Singledasein, zwischen religiösen Traditionen und einer säkularen Gesellschaftsordnung zahlreiche Brüche entstanden sind und weiterhin entstehen, die jeden Einzelnen unterschiedlich prägen. Nicht Identitätspauschalen, sondern Identitätsbrüche lassen literarisches Neuland entstehen.