: „Den Zirkus kann man nicht ersetzen“
TAMTAM Als Kind hatte er es nicht leicht, mit roten Haaren und Sommersprossen. Dann kamen Clowns in die Stadt, die genauso aussahen wie er. Ein Gespräch mit dem Roncalli-Chef Bernhard Paul über den Duft der Manege
■ Der Mensch: Bernhard Paul wurde am 20. Mai 1947 im österreichischen Lilienfeld geboren und wuchs im niederösterreichischen Industrieort Wilhelmsburg auf. Er studierte Hoch- und Tiefbau, arbeitete als Grafiker, in einer Werbeagentur und machte jahrelang Musik. 1976 verwirklichte er seinen Kindheitstraum und gründete den Circus Roncalli. Dort stand er oft als Clown „Zippo“ in der Manege. Pauls Urgroßvater war Librettist von Johann Strauß, weshalb am Ende jeder Zirkusvorstellung der Donauwalzer gespielt wird. Er ist mit der Artistin Eliana Larible verheiratet, die aus einer alten italienischen Zirkusdynastie stammt. Gemeinsam haben sie drei Kinder.
■ Der Zirkus: Mit seinen historischen Zirkuswagen ist der Circus Roncalli der letzte, der den Transport per Bahn organisiert. Vom 18. Dezember bis zum 5. Januar gastiert der Roncalli Weihnachtscircus im Berliner Tempodrom.
GESPRÄCH FRANZISKA SEYBOLDT FOTO WOLFGANG BORRS
sonntaz: Herr Paul, gibt es eigentlich guten und schlechten Applaus?
Bernhard Paul: Es gibt nur schlechtes Publikum. Und das schlechteste sind Leute mit Freikarten. Wenn eine Firma ihren Mitarbeitern Zirkuskarten spendiert. Es gibt eine Regel: Was nichts kostet, ist nichts wert. Die klatschen dann zwar, aber an der falschen Stelle.
Normalerweise geht man in den Zirkus, um den Alltag zu vergessen. Wie viel Alltag steckt im Zirkus?
Der Zirkus hat zwei Seiten: Bürokratie und Fantasie, die sich feindlich gegenüberstehen. Die Bürokratie lässt ja nichts aus. Deshalb bin ich auch kein Freund der EU.
Warum denn nicht?
Allein schon wegen dieser Glühbirnenverordnung. Als Zirkusdirektor lebt man davon, zehntausend Glühbirnen hängen zu haben, und plötzlich verzwanzigfacht sich der Preis. Eine Inszenierung hat immer mit Licht zu tun. Ich bin mal in einem Steakhaus gesessen und habe eine Sparlampe über mir gehabt. Der Wein war grau und das Steak auch.
Aber das sind die kleinen Sorgen. Was sind die großen Sorgen eines Zirkusdirektors?
Der Transport. Wir haben einen Sonderzug der Bahn gemietet, ganz umweltbewusst. Das macht sonst keiner mehr, weil es teuer ist. Seit die Bahn privatisiert worden ist, hat sie so ziemlich alle Verladerampen in Deutschland abgebaut. Deshalb müssen wir in ein, zwei Jahren auch auf die Autobahn.
Schauen Sie sich eigentlich manchmal eine Vorstellung bei der Konkurrenz an?
Nein, ich bin ja kein Masochist. Da werden den Ponys die Hufe nicht geschnitten, oder die nehmen die Peitsche zum Hauen und nicht zum Dirigieren. Die machen alles verkehrt. Tierdressur funktioniert nur mit Belohnung. Und wenn ein Pferd den Rücken rund macht und die Ohren anlegt, dann weiß ich: Oh, das wurde schon mal geschlagen. Jedes Pferd, das einmal geschlagen worden ist, ist für die Dressur auf alle Zeiten verdorben.
Die Peta sagt: Jeder Zirkus ist Tierquälerei.
Peta ist sowieso ein Arschlochverein. Unsere Pferde haben ein Außengehege, denen geht es gut. Einmal war ein Pferd krank und durfte nicht in die Manege. Ich habe gedacht, das zerreißt die Box. Als es die Musik gehört hat, ist es geradezu verrückt geworden.
Die Pferde haben also richtig Lust drauf?
Ja. Das machen die gern. Anders ist das bei Wildtieren. Vor dreißig Jahren haben die großen Zirkusse eine riesige Menagerie gehabt, bis zu zwanzig Elefanten, Tiger, Eisbären, Löwen, Hyänen. Die Leute sind damals nicht nach Afrika auf Safari gefahren. Die hat interessiert: Wie schaut so ein Viech aus? Wir hatten nur ein paar Löwen. Und die Leute haben immer gefragt: Wo ist denn hier die Tierschau? Weil es keine gab, sind sie wieder gegangen.
In Ihrem aktuellen Programm gibt es dafür eine Hühnerdompteuse.
Ich muss dazu sagen: Das Huhn führt die Frau vor. Hühner sind ja nicht besonders intelligent. Manchmal machen sie, was man will, manchmal nicht. Letzteres ist immer peinlich.
Dann ist es also eher eine Clownsnummer?
Ja, klar.
Wann haben Sie gespürt, dass das etwas werden kann mit Ihnen und dem Zirkus?
Ich bin in einem österreichischen Dorf aufgewachsen, in Wilhelmsburg. Zwei Fabriken, eine Porzellanmanufaktur und eine Eisengießerei. Ich habe die Welt um mich herum immer anders wahrgenommen als die anderen. Für mich war mittags die große Inszenierung. Da haben die Kirchenglocken geläutet und fast gleichzeitig die Fabriksirenen. Es ging immer darum, wer zuerst dran ist. Das war die Ouvertüre zu einem Schauspiel: Aus der Porzellanmanufaktur kamen 200 Radfahrer, alle weiß eingestäubt. Und von der anderen Seite, aus der Eisengießerei, kamen 200 schwarze Radfahrer. In der Ortsmitte sind sie in die Häuser verschwunden, und um ein Uhr, wenn die Fabriksirenen geheult haben, sind sie wieder auf die Fahrräder gestiegen, haben sich in Schwarz und Weiß sortiert und fuhren in die Fabriken. Das habe ich später in mein Programm aufgenommen.
Sie hatten also eine Kindheit in Schwarz-Weiß?
Ja, bis ich mit sechs das erste Mal im Zirkus war. Plötzlich wurde meine Welt bunt. In allen Seitenstraßen waren Zirkuswagen, da ging ein Elefant, dort ein Zebra. Und die Zirkuskinder saßen neben mir in der Schule. Ich habe mich natürlich mit denen angefreundet, und dann bin ich auf einmal auf der Wohnwagenterrasse gesessen, so ein schöner alter Holzwagen, der Vater war Clown und Zirkusdirektor. Der saß da, hatte seine Nase abgenommen, und es gab Spaghetti. Damals waren Spaghetti noch ein italienisches Gericht, das gab es höchstens mal im Urlaub. Und dann sind die schönsten Frauen der Welt an uns vorbeigegangen. Die waren geschminkt, das hatte ich ja noch nie gesehen. Nur die Apothekerin hatte einen Lippenstift. Die vom Zirkus haben Netzstrümpfe angehabt und über mir Spagat gemacht am Trapez. Das war meine erste erotische Erweckung.
Offenbar hatten es Ihnen die Clowns aber besonders angetan.
Das war für mich eigentlich immer die Königsdisziplin. Das hat mir mehr imponiert als der stärkste Mann der Welt. Der Clown ist der Antiheld. Er ist nicht schön, aber alle mögen ihn. Und ich war auch noch nie schön. Als Kind hatte ich Augengläser, Sommersprossen, rote Haare. Und dann komme ich da hin, und der Vater schaut aus wie ich. Auf einmal bin ich akzeptiert worden, wie ich war.
Eigentlich eine traurige Geschichte.
Ich habe gleich die erste Depression meines Lebens gehabt, weil der Zirkus weggefahren ist. Aber es bleibt ja immer so ein Sägemehlkreis übrig. Und da habe ich nach der Schule gesessen und geschaut, ob ich irgendwas finde.
Und, haben Sie?
Eine Paillette! Das war meine Reliquie, die habe ich heute noch. Der Zirkus von damals war für mich der schönste der Welt. Der war auch nicht schlecht, aber in der Fantasie wurden die Wagen noch schöner. Später wollte ich den Zirkus meiner Kindheit wieder zum Leben erwecken. Realisiert habe ich aber meine Erinnerung, nicht die damalige Realität. Ich bin auch froh, dass ich nicht gleich zum Zirkus gegangen bin.
Stattdessen haben Sie erst mal Hoch- und Tiefbau studiert, waren Grafiker, Art Director bei einer Zeitung und in einer Werbeagentur.
Dank dem Hoch- und Tiefbau habe ich die elektrische Kuppel zum Lüften erfunden Die wird heute weltweit gebaut. Als Grafiker habe ich viel über Farbpsychologie gelernt. Im Zirkus muss optisch alles stimmen. In der Werbeagentur habe ich Kampagnen für Porsche gemacht. Später habe ich ein Logo für meinen Zirkus entworfen. Das gab es damals noch nicht. Jeder Zirkus hat irgendeine Schrift gehabt, und die war immer anders. Diese Sachen haben mir genützt. Man könnte also auch sagen: Ich habe Zirkusdirektor studiert.
Warum sind Sie denn nicht gleich Clown geworden?
Ich habe gemerkt, wie schwierig Clownsnummern sind, und habe erst nur Zirkus gemacht. Irgendwann habe ich den Clown meiner Kindheit wiedergetroffen. Der war schon ein älterer Herr, aber ich wollte unbedingt, dass er bei mir mitmacht. Er wollte nicht, fand das alles zu anstrengend. Ich habe gesagt: Freddy, wir werden es schön haben. Ein gemütlicher, österreichischer Zirkus. In der Früh gibt es ein schönes Häferl Kaffee, und dann werden wir auf der Wohnwagenterrasse sitzen und Erdbeeren mit Schlagobers essen. Dazu ist es nie gekommen, weil der Zirkus zu erfolgreich war. Da ging richtig die Post ab: überall Shows und Fernsehauftritte. Das hat Freddy mir oft vorgehalten. Kurz vor seinem Tod habe ich ihn noch einmal besucht, und da saßen wir tatsächlich auf seiner Terrasse und haben Erdbeeren mit Schlagobers gegessen.
Von Freddy haben Sie also gelernt?
Ja. Wir haben auch zusammen gespielt, aber der Hundling hat mir nicht gesagt, wie es geht. Er wollte, dass ich selber drauf komme. Das musst du wissen, hat er immer gesagt. Etwa beim Schminken: Die ersten Male habe ich viel zu viel aufgetragen. Als ich es immer weiter reduziert habe, hat er irgendwann gesagt: Jetzt bist du da.
Was ist eigentlich schwieriger: Erwachsene zum Lachen zu bringen oder Kinder?
Kinder. Jetzt erzähle ich dir ein Geheimnis: Clowns lieben die Kinder nicht. Das darf man aber nicht laut sagen. Clowns wollen die Leute mit Kleinigkeiten zum Lachen bringen, so wie Charlie Chaplin. Aber das bemerken Kinder gar nicht. Kinder lachen ja auch nicht über Loriot. Doch wenn der Clown hinfällt, ist das lustig. Wenn er sie mit Wasser anspritzt, lachen sie. Dabei wollen Clowns Künstler sein.
So viele exzentrische Menschen auf einem Haufen, puh. Sind im Zirkus denn wirklich alle eine große Familie?
Das klingt so kitschig: Wir sind eine Familie und haben uns alle lieb. Aber es ist so. Wir leben auf engstem Raum, wir hören alles, wissen genau, wer mit wem, wann und um wie viel Uhr.
Aber Ihre Kinder haben einen eigenen Wohnwagen, oder?
Jetzt ja. Früher haben wir zu fünft in einem Wohnwagen gewohnt. Aber das war lustig. Es hat geregnet, unterm Dach hat es getrommelt, der Wind ist gegangen, und die Kinder sind zu uns ins Bett gehuscht – eine warme, enge Atmosphäre. Diese Zeit möchte ich nicht missen. Und man ist ja auch selten im Wagen. Zum Schlafen schon, aber wenn es geht, sitzt man davor unter der Markise. Das ist eine andere Form des Lebens.
Leben Sie eigentlich das ganze Jahr im Zirkuswagen?
Die Tournee dauert neun Monate. Es gibt aber immer wieder Phasen, in denen ich abhaue. Dann fahre ich nach Spanien.
Wo ist für Sie zu Hause?
Wo die Blumenvase steht. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich im Zirkuswagen gewohnt. Aber wir haben ein Winterquartier in Köln und eine Wohnung in Wien, direkt am Naschmarkt. Warst du schon mal in Wien?
Leider nicht.
Vergiss Berlin. Wien ist tausendmal schöner. Und spannender! Was es da alles gibt an Geschichte, an Menschen. Die skurrilsten Menschen der Welt leben in Wien.
Nicht im Zirkus?
Nein. In Wien kann es passieren, dass du spazieren gehst, und plötzlich kommt ein 95-jähriger Kapitän aus der Donaumonarchie daher, mit Kaiserbart, Kapitänsmütze, weißen Schuhen und Stock. Aber uns fehlen natürlich wichtige kulturelle Geschichten wie Sido und Bushido. So was haben wir nicht.
Mit Sido saßen Sie in der Jury der österreichischen Talentshow „Die große Chance“. Auch eine Art Zirkus, aber im Fernsehen. Eine ernst zu nehmende Konkurrenz?
Den Zirkus kann man nicht ersetzen. Wenn man vor dem Fernsehschirm sitzt, die Königin der Lüfte am Trapez sieht, und es riecht nach Zwiebeln aus der Küche, dann ist das nicht das Gleiche. Im Zirkus duftet es nach ihrem Parfüm, wenn die vorbeifliegt, und man hat Popcorn im Mund, das ist ganz frisch, und es riecht nach Pferden.
Der Geruch macht also den Unterschied?
Gerüche finde ich ganz wichtig. Ich finde, dass Menschen gut riechen können. Bestimmte Menschen, nicht jeder. Als ich als Kind in den Zirkus gegangen bin, war da erst einmal der Geruch von frisch gemähtem Gras. Die Zirkusplätze waren meistens Wiesen. Bevor der Zirkus gekommen ist, haben sie die gemäht. Ein Stück weiter roch es nach Sägemehl, Raubtieren und Pferden. Noch ein Stück weiter standen die Programmverkäuferinnen. Hübsche Mädchen. Billiges Parfüm, aber gut. Diese Mischung hat mich fasziniert.
Der Duft der Manege.
Ja. Ich habe sogar mal mit einem Parfümeur versucht, einen Duft aus Gras und Sägemehl herzustellen. Das Ergebnis war immer knapp daneben. Die Rechnung ist nicht aufgegangen. Es war künstlich.
Angenommen, ich will bei Ihnen anfangen. Was muss ich können?
Aktuell brauchen wir eine Pressechefin. Haben Sie Interesse?
Ich dachte eher an etwas Akrobatischeres.
Es ist so: Ich stelle die Leute auf eine harte Probe, und ich weiß, warum. Früher bin ich immer drauf reingefallen. Roncalli war so was wie Woodstock am Anfang. Ah, Roncalli! Oh, Seifenblasen! Wenn da welche mit so Sternchen in den Augen ankamen, da habe ich sie zuerst einmal warten lassen. Nur die, die wirklich immer wiedergekommen sind, hatten eine Chance. Wenn du den Zirkus nicht liebst oder die Form dieses Lebens nicht magst, dann wirst du es nie schaffen. Jemand, der durchhält, der nicht gleich aufgibt, das funktioniert. Ein großer Teil meines Stammes ist so dazugekommen.
Sie haben mal bei „Wetten, dass . . ?“ angerufen, als ein Kandidat über Bierflaschen balancierte, und ihn vom Fleck weg engagiert. So läuft das also?
Nein, das sind eher Zufälle. Ich habe aber auch eine Gabe: Ich sehe die Nummern nicht so, wie sie sind. Ich sehe sie so, wie ich es machen würde. Ich denk mir die Musik weg, das Kostüm, weil die sind meistens so furchtbar, und ich kürze im Kopf ein Drittel der Zeit, weil die meisten Nummern zu lang sind. Dann engagiere ich den, und alle sagen: Wieso hast du denn den genommen? Und es geht los: anderes Kostüm, andere Musik, andere Requisiten – und plötzlich: Wow! Diese Transformation, die ist wichtig. Wenn sie sich schlecht verkaufen, können die Leute noch so talentiert sein. Aber du kannst ja nicht verlangen, dass ein guter Akrobat auch ein guter Regisseur ist. Oder Kostümbildner. Marcello Mastroianni wäre ohne Fellini nicht Marcello Mastroianni gewesen. Dann wäre er nur als Casanova durch den Film gelaufen.
Sie sind also der Fellini von Roncalli.
Das ist ja mein Geheimnis. Die Leute fragen mich ständig: Wo hast du denn diese tollen Nummern her? Das ist wie bei den Köchen. Was ich zur Verfügung habe, sind Fisch, Fleisch, Gewürze, Gemüse. Ich gehe auf demselben Markt einkaufen. Ich koche nur anders.
■ Franziska Seyboldt, 29, ist sonntaz-Redakteurin
■ Wolfgang Borrs, 52, fotografiert für die taz