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Archiv-Artikel

Auf der Flucht

Ben Hopkins’ sehenswerter Essayfilm „37 Uses for a Dead Sheep“ handelt vom Schicksal der Pamir-Kirgisen, eines zentralasiatischen Nomadenvolkes

Plötzlich nimmt das körnige Schwarzweißbild Farbe an, und das Filmteam selbst rückt in den Bildausschnitt

von CLAUDIA LENSSEN

Wenn heutzutage die Bildzeugnisse von historischen Ereignissen fehlen, dreht man sie kurzerhand mit Schauspielern nach. Solche fiktionalen Rekonstruktionen sind in Dokumentarfilmen selbstverständlich geworden, seit die BBC diesen Standard weltweit gesetzt hat. Hauptsache ist, dass sich die Bilder bewegen.

Für den britischen Autor und Filmemacher Ben Hopkins ist das Problem der Wirklichkeitsinszenierung für ihn Anlass zu einem eleganten Spiel. Ethnografische Fernsehfilme kennt er seit seiner Kindheit. Was ihm daran nicht gefiel, sagt er, ist die Erzählperspektive, die immer ein koloniales „Wir“ und „die Anderen“ konstruierte. Sein neuer Film „37 Uses for a Dead Sheep“ sucht nach einer anderen Perspektive: Er will lieber mit den Leuten als über sie erzählen. „37 Uses for a Dead Sheep“ handelt vom Schicksal der Pamir-Kirgisen, eines kleinen ungewöhnlichen Volkes, das als Opfer geopolitischer Machtverschiebungen ins Exil in die Osttürkei verschlagen wurde.

Zusammen mit Ekber Kutlu, einem Künstler und Nachfahren des letzten Khans der Pamir-Kirgisen, rekonstruierte Ben Hopkins dramatische Szenen der Migrationsgeschichte aus den Erzählungen der Dörfler und inszenierte sie in unterschiedlichen historischen Filmstilen nach. Doch kaum hat man sich zum Beispiel auf eine Stummfilmepisode in traditionellen Gewändern, mit pathetischen Gesten, großen Landschaftstotalen und eigens komponierter Musik eingelassen, wechselt das körnig schwarzweiß behandelte Material zu farbig, und das Filmteam kommt mit in den Bildausschnitt. Ben Hopkins schaut sich und seiner Crew, einem bunten Trüppchen im typischen Filmemacher-Outfit, bei der Arbeit – vor allem: im Gespräch mit den älteren Männern – zu. Aus deren beiläufigen Berichten, aus Spiel- und Arbeitsszenen und faktenorientierten Zwischentiteln ist so ein spannender, unterhaltsamer Essay über die Pamir-Kirgisen entstanden. Ethnologische Forschung und Filmemachen gehen gut zusammen, führt Hopkins gelassen vor, wenn man sich aufeinander einlässt und zur Selbstironie fähig bleibt.

Die Pamir-Kirgisen sind ein Nomadenvolk aus Zentralasien, das zu den Turkvölkern gehört. Jahrhundertelang widmete es sich in den Hochebenen des Pamir-Gebirges der Schaf- und Yakzucht und betrieb über die Seidenstraße Handel mit allen zentralasiatischen Völkern. In einer amüsanten, über den gesamten Film verteilten Gesprächsszene lernt der Filmemacher 37 verschiedene Verwendungsmöglichkeiten für ein getötetes Schaf kennen, davon mehr als zehn Arten der Verarbeitung von Joghurt und Käse, die zur winterlichen Vorratshaltung dienten. Als das Zarenreich und die britische Kolonialmacht in Indien um 1900 eine Pufferzone zwischen ihren Blöcken schufen, wurde das Pamir-Gebiet in russische, chinesische und afghanische Teile gespalten. Die Pamir-Kirgisen lebten im russischen Machtbereich, bis sie nach der Revolution in Konflikt mit dem Sowjetsystem gerieten. Ein Guerillakampf brach aus – noch in Hopkins’ Rekonstruktion ist die Angriffslust unter den Greisen erhalten.

Vor der Roten Armee zogen sich die Pamir-Kirgisen nach China zurück, wo sie nach Maos Machtergreifung wieder unter Druck gerieten. Eine weitere Flucht in den afghanischen Pamir begann, doch als Afghanistan prosowjetisch wurde, flohen die Pamir-Kirgisen in pakistanische Flüchtlingslager, wo viele Familien starben und die Viehbestände verloren gingen. 1982 schließlich nahm der letzte Khan das Angebot der türkischen Regierung an, in ein neu angelegtes Dorf nach Ostanatolien zu ziehen. Heute leben rund 2.000 Pamir-Kirgisen in der Türkei. Die globalisierte Kultur greift auch hier in ihr Zusammenleben ein. Arbeit finden die jungen Leute nur in Istanbul, wo sie sich – Hopkins zeigt das vor allem am Beispiel einer jungen Frau – in einer Generation vom Feudalismus in die urbane Moderne aufmachen.

„37 Uses for a Dead Sheep“. Regie: Ben Hopkins. Essayfilm, Großbritannien 2006, 85 Min.