Das ist es noch nicht, Raúl

Raúl ist Spaniens Rekordtorschütze und Symbol. Aber ist er auch noch die Lösung oder schon das Problem der Nationalelf?

aus KAMEN RONALD RENG

Auch an diesem Morgen ist das Tor zu klein für Raúl. Die sechs Angreifer der spanischen Nationalelf stehen beim Training in ihrem WM-Quartier in Kamen Schlange vor dem Tor von Iker Casillas, aus zwanzig Metern sollen sie unbedrängt auf den Torwart losgehen. Nationaltrainer Luis Aragonés, 68, ist hyperaktiv wie eh und je, und kommentiert jeden Sololauf: „Eso es!“, der Lieblingsruf spanischer Trainer: „Das ist es!“

Dann läuft Raúl auf Casillas zu. Und es bleibt still. Denn das ist es nicht. Sein Schuss geht neben das Tor, beim nächsten Mal endet sein Dribbling in den Beinen des Torhüters. Es ist nur Training, es hat nicht viel zu sagen, aber eines schon: Er will es zu sehr.

Noch immer befindet sich der spanische Fußball im Zeitalter des Raulismo: Raúl González, 29, ist Spaniens erster Name in der Welt, Kapitän und Rekordtorschütze, Symbol von Real Madrid. Aber ist er noch die Lösung oder doch eher das Problem der selección?

Tore schießen ist eine Sache, wichtige Tore schießen eine andere, und kein Spanier traf öfters zum 1:0- oder 2:1-Sieg als Raúl. Einerseits. Andererseits ging gerade eine Saison ohne Nachricht von ihm zu Ende. Er schoss in 32 Spielen nur sieben Tore für Real, im Winter pausierte er drei Monate mit einer schweren Knieverletzung. Seit Februar pendelt er bei Real zwischen Bank und Strafraum; ein verhuschter Schatten hier wie dort.

Er wird wohl am morgigen Mittwoch in Spaniens erstem WM-Spiel in Leipzig gegen die Ukraine starten; auf Bewährung. „Ich weiß, der Lärm im Umfeld ist da“, sagt Raúl, „aber diese Leute, die behaupten, ich sei fertig, sind neidische Opportunisten.“ Er gesteht allerdings auch: „Ich war in den vergangenen zwei Jahren nicht auf meinem höchsten Niveau.“ Das ist nett ausgedrückt. Wer sich auf die Suche nach der verschwundenen Form eines Weltklasseathleten macht, stößt schnell auf zwei interessante Argumente, ein taktisches und ein, wie soll man es nennen: politisches?

Die Spur beginnt im gegnerischen Strafraum. Dort ist Raúl immer weniger zu finden. „Stück für Stück“, sagt er, „hat man mich vom Tor entfernt.“ Real Madrids Verpflichtung von Ronaldo vor vier Jahren nahm ihm seinen natürlichen Platz. Rául, eigentlich ein klassischer, lauernder Strafraumstürmer, musste sich für ihn aus der ersten Reihe zurückziehen, später krallte sich der Misserfolg Real, ein Trainer nach dem anderen hantierte an der Taktik herum und schob Raúl hin und her, bis ins linke Mittelfeld.

Aber er hat nie vehement dagegen protestiert, dass er für Ronaldo geopfert wurde. Das ist wohl der – politische? – Teil des Problems. „Raúl ist momentan generöser als intelligent“, sagt sein großer Förderer, Reals langjähriger Sportdirektor Jorge Valdano. Raúl hat sich in die Rolle des Staatsmannes des spanischen Fußballs drängen lassen, er fühlt sich bei Real für alles verantwortlich – er traut sich nicht mehr, zuerst an sich selbst zu denken. Er glaubt, er müsse immer für die Mannschaft einstehen. In einem Verein, der seit drei Jahren täglich für seinen Misserfolg unter Beschuss steht, ist das eine Position, die einen zerdrücken muss.

Er wird, das hat er von seiner Selbstlosigkeit, auch für Spanien weg vom Tor, neben Mittelstürmer Fernando Torres auf dem Flügel spielen müssen. „Raúl ist der Blutspender des Teams“, sagt Trainer Aragonés: „Er denkt mehr an die anderen als an sich.“ Und Raúl frisst den Druck in sich hinein und glaubt, ihn mit noch mehr Einsatz lösen zu können. „Mehr als einmal sah ich Raúl nach dem Spiel zitternd wie ein Blatt im Wind“, sagt Valdano. „Weil sein Wille viel stärker ist als sein Körper, geht er oft über seine Grenzen hinaus.“

Das war seine Stärke. Nun, in seiner Unbedingtheit, die alte Form zurückzuholen, scheint es ein Hindernis: Er verkrampft sich vor lauter Wille.