Du Opfer!

Eine Tagung im Einstein Forum offenbarte einen akademischen Überdruss an der Opferkultur

Kann sich unverschuldetes Leiden eigentlich lohnen? Verbindet sich mit dem öffentlichen Eingeständnis eines verunglückten Lebens mittlerweile ein sozialer Prestigegewinn? Dass die westliche Welt sich in ihren Diskursen längst zu einer Opferkultur entwickelt habe, schien jedenfalls für die Teilnehmer der Tagung „Victims and Losers“ am vergangenen Wochenende im Potsdamer Einstein Forum ausgemachte Sache zu sein. Immer mehr Menschen fühlen sich demnach als Benachteiligte oder als Träger eines gesellschaftlichen Stigmas.

Schon eine solche Diagnose verrät den aufklärerisch-liberalen Überdruss: Bedeutet eine inflationäre Anerkennung von unverschuldetem Leid doch nicht unbedingt nur ein Mehr an gesellschaftlicher Humanität, sondern auch die Trivialisierung und Perpetuierung von Leiderfahrung und Leidwahrnehmung. Schlimmer noch: Erklären sich in einer Opferkultur womöglich auch jene Menschen zu Opfern, die sich ganz unberechtigterweise ihrem Schicksal ausgeliefert wähnen oder sich den Konsequenzen ihres eigenen Handelns nicht stellen wollen?

Bekanntermaßen löst die Konkurrenz vernachlässigter Opfergruppen, wie neuerdings auch der Heimatvertriebenen und Luftkriegsgeschädigten, nicht nur vermehrte Empathie, sondern auch peinliche Betretenheit aus. Welches Leid verdient denn bloß noch gesellschaftliche Anerkennung und Kompensation? Die Opfer von Behördenwillkür, Männergewalt und Globalisierung? Sogar eine Doppelung des Opferstatus wurde auf der Potsdamer Tagung diskutiert: Als die „Opfer von Opfern“ bezeichnete der Anthropologe Abed Azzam aus Tel Aviv die Palästinenser im Nahostkonflikt: „Wir sind keine Kurden, sondern kämpfen gegen die Juden, und bloß deshalb interessiert sich alle Welt für uns.“

Dass Opfer im direkten sozialen Umgang eigentlich schwer zu ertragen sind, hat Jan Philipp Reemtsma beobachtet: „Opfer sind unerfreuliche Leute. Sie sind empfindlich, hören genauer hin, sind leicht kränkbar und aggressiv.“ Reemtsma vermutete, dass es einen sozialen Basisaffekt gebe, der sich gegen jedes Opfer richte: Da alle Menschen gelegentlich Fantasien der eigenen Opferwerdung hegten, würden sie konkrete Leidensgeschichten lieber abwehren. Im gesellschaftlichen Diskurs aber habe sich seit dem Nationalsozialismus etwas geändert. Abzulesen sei das am Erfolg der Opfermemoiren. Ihnen werde mittlerweile oft genug eine tragische Deutungsautorität über die Welt zugeschrieben: „Wenn Sie ein Zitat von Jean Améry oder Primo Levy bringen, ist das so gut wie ein Argument.“

Der Berliner Jurist und Schriftsteller Bernhard Schlink meinte dagegen eher einen allgemeinen Trend zur Verrechtlichung gesellschaftlicher Prozesse und zu einer normativeren Weltwahrnehmung zu erkennen. Was früher als Naturereignis oder Schicksal hingenommen worden sei, könne heutzutage oft in seinen Folgen kompensiert werden. Damit gehe allerdings eine verhängnisvolle Erwartungshaltung einher. Schlink zufolge verstelle nämlich die normative Weltwahrnehmung den Blick auf die Wirklichkeit: „Hier muss nicht gelernt, hier darf insistiert werden.“ Flugs konnte Schlink daraus eine gedankliche Verbindung von der Dolchstoßlegende zum Aufstieg Hitlers und zur Sozialstaatsdebatte knüpfen und geschickt auf das doppelte Tagungsmotto anwenden: Denn Opfer, die aus ihrer Leiderfahrung freie Handlungsalternativen ableiten können, sind eigentlich schon keine Opfer mehr, sondern bloß noch Verlierer. Widerspruch erntete Schlink mit dieser Generalisierung nicht.

Doch ein wenig schien sich der unspezifische akademische Überdruss an der Opferkultur im Vortrag der Jerusalemer Soziologin Eva Illouz zu klären. Den von ihr in amerikanischen Talkshows beobachteten Opferexhibitionismus beschrieb Illouz nämlich als Folge einer gesellschaftlichen Überpsychologisierung, die den Opferstatus zu einem gültigen Identitätskonzept erklärt habe. Die davon ziellos genährte Erwartung eines erfüllten und selbst bestimmten Lebens bleibe dabei zwar im Ungefähren, setze aber in der Diagnose der deshalb notwendig scheiternden Selbstvervollkommnung die Suche nach einer Leidens- und Opfergeschichte in der eigenen Biografie stets zwingend voraus. JAN-HENDRIK WULF