Im Nahbereich

Familie als Vergrößerungsglas: Die Hamburger Autorentheatertage endeten mit vier neuen Stücken in einer Langen Nacht, in der Väter, Mütter, Söhne und Töchter hart an ihren Rollen arbeiteten

Denn die Familie ist Ausgangspunkt aller Realitätserfahrung und ihr Residuum bis ins Grab

VON SIMONE KAEMPF

Wann lohnt es sich eigentlich für ein Stadttheater, um Zuschauer in anderen Städten zu werben? Das Thalia Theater hat dieses Mal nicht nur in Hamburg, sondern auch in Berlin, Bremen und Kiel für die Autorentheatertage Plakate geklebt. Im Haus selbst vermutet man zwar, dass so eine Aktion kaum zusätzliche Zuschauer bringt, aber zur Imagepflege beiträgt. Und die Autorentheatertage halten, was eine überregionale Plakatierung verspricht.

Stetiges Engagement und vorsichtige Experimente haben die Autorentheatertage zu einem richtigen Festival für zeitgenössische Dramatik werden lassen. Die Fühler strecken sich in zwei Richtungen aus. Einerseits fassen die eingeladenen Gastspiele gut zusammen, welche Inszenierungen in der Spielzeit von Bedeutung waren – „Wallenstein“ von Rimini Protokoll, Nicolas Stemanns „Babel“ vom Wiener Burgtheater, aus München „Dunkel lockende Welt“ von Händl Klaus und Johan Simons’ Inszenierung von Kieslowskis „Dekalog“. Andererseits zeigt der Dramatikerwettbewerb, welche Stücke und Stoffe einem zukünftig auf den Spielplänen begegnen können: Glaubt man den ausgewählten Stücken, dann geht der Trend zur Familien- und Beziehungsgeschichte, die nicht länger als Inzest-, Skandal- oder Vatermordsdrama erzählt wird. Familie ist als solche nicht mehr Schicksal, sondern ein Objekt freier Wahl, in dem sich Konflikte verschieben und die Identität in familiären Wurzeln neu gesucht wird.

Das Genre bestimmt die Figuren: Väter, Mütter, Söhne, Töchter, Geliebte, neue Liebhaber, ein schwuler Stiefvater. Die mittlerweile 18-jährige Tochter aus einem früheren Seitensprung steht plötzlich vor der Tür. Die Welt, in die sie in Simon Froehlings „Fieberkind“ einbricht, ist die eines homosexuellen Paars, dessen emotionale Sicherheiten auf den Prüfstand geraten. Mit spröder Sinnlichkeit breitet der junge Schweizer Autor Froehling die ungeahnte Verunsicherung aus.

Hubert Spiegel hat sich als alleiniger Juror durch die 152 Einsendungen gelesen. In der Rückbesinnung auf das Thema Familie sieht der Literaturchef der FAZ eine Parallele zur Prosa, wo der Familienroman von Verlust, Befreiung, Zusammenbruch erzählt. Für Thalia-Dramaturg John von Düffel liegt der Optimismus darin, gesellschaftliche Veränderungen anhand familiärer Themen beschreiben zu können. Da, wo sie im Nahbereich erfahrbar werden. Denn die Familie ist Ausgangspunkt aller Realitätserfahrung und vielleicht tatsächlich auch ihr Residuum bis ins Grab. „Das Weiterleben ist eine Frage der richtigen Bestattung“, heißt es in Polle Wilberts Stück „Der Tag der jungen Talente“. Die Beerdigung des Vaters wird von Tochter Kamilla organisiert. Doch an ihr bleibt auch die andere Arbeit hängen: Die tief sitzenden Konflikte der Ost-Familie freizuschaufeln, die nach dem Mauerfall endgültig auseinander brach.

Ob Polle Wilbert oder Andreas Jungwirths Stück „Schwarze Mamba“ – in fast allen ausgewählten Stücken bricht verdrängte Vergangenheit in die Gegenwart durch. Wie damit umgehen? So unterschiedlich der Kampf um die Wahrheit beginnt, so vergeblich schmerzvoll geht er immer wieder aus. Während Kamilla am Ende befreit ihre Last verliert – Glück gehabt –, treiben in Morten Feldmanns „Im Sitzen“ die zwei alten Freunde, die sich nach zwanzig Jahren unter einem Vorwand wiedertreffen, alte Gefühle und neue Vorwürfe wie eine Schneewalze vor sich her.

Das enge psychologische Kammerspiel wirkt beim Lesen so dialogsicher und theaterfertig, dass man sich den Text bestens auf der Bühne vorstellen kann. Die vier Werkstattinszenierungen in der finalen Langen Nacht der Autoren offenbaren jedoch einmal mehr exemplarisch, dass gerade die Leerstellen, Doppeldeutigkeiten und manchmal sogar die Schwächen eines Textes die interessanteren Regie-Zugriffe animieren. Ausgerechnet die Textcollage „Potentielle Freunde“ von Stefanie Schütz und Anna Annegret Pein, in der ein bindungsunfähiges, überstrapaziertes Großstadtpersonal unter Gefühlsduschen nach dem Leben sucht, bot in der Regie von Frank Abt die überraschendste Arbeit: Die Schauspieler in Raumanzügen wie in einer fernen Zukunft, mit Houellebecq’-scher Unbedingtheit bleibend auf Liebessuche, kurz davor, aus dem Vakuum auszubrechen.

Der wahre Sieger hieß am Ende einmal mehr: Armin Petras. Im Sommer wird der Regisseur, der lange Jahre am Thalia gearbeitet hat, als Intendant ans Maxim Gorki Theater wechseln. Zum Abschied inszenierte er sein Stück „Abalon, one nite in Bangkok“. Darin kreuzen sich die Wege zweier Brüder und zweier asiatischer Schwestern. Die eine rettet dem Comiczeichner Abalon das Leben, verliert bei dem folgenden Autounfall ein Bein. Leben, Tod und Einsamkeit werden dick aufgetragen, aber Petras findet das Kleine im Großen, das Unsentimentale gerade dort, wo der Verdacht auf Kitsch nie fern ist, die intime Begegnung im Bühnen-Catching, und zeigt, was ein Regisseur aus dem abstrusesten Text herausholen kann, wenn er es kann. Vielleicht wird man bei ihm demnächst dem ein oder anderen Text aus Hamburg begegnen. Die Entdeckung neuer Stücke und Stoffe hat er zumindest als einen Pfeiler im Programm des neuen Maxim Gorki Theaters angekündigt.