arzt, pisa etc.
: Nicht 68, sondern der NC ist schuld

Zu Zeiten, als ein Arzt noch mehr als zwei Minuten für seine Patientin übrig hatte und er es noch wagte, sich ganz allein mit ihr in seinem Sprechzimmer zu unterhalten – gar nicht davon zu reden, dass auch die Untersuchung so vor sich ging –, in diesen glücklichen Zeiten also erkundigte sich mein Frauenarzt nach meinen Studienplänen. Als ich Jura erwähnte, meinte er, das wäre ein schwieriges Studium, das einige Intelligenz erfordere. Medizin dagegen, das sei eine leichte Sache, dafür müsse man wirklich nicht besonders schlau sein.

Ich war verblüfft. „Naja“, erklärte er, „als ich zu studieren begann, waren es die schlechten Schüler, die Medizin oder Jura studierten. Die Einserschüler dagegen, die Streber, die wurden Lehrer. Die schlechten Schüler interessierte eben das Leben, nicht die Schule. Wir hingen mit den Kumpels rum. Uns interessierte der Sport, das Kino, die Mädchen. Das waren gute Voraussetzungen für die Medizin und die Juristerei. Viele von den schlechten Schülern waren ja hochintelligent, die hat doch nur die Schule genervt. Die wurden dann die Juristen. Und die Streber gingen genau dorthin zurück, wo sie sich am wohlsten gefühlt haben, an die Schule. Und ich muss zugeben, letztlich sind sie wohl ganz gute Lehrer geworden. Sie liebten ja das Lernen und die Disziplin, und ehrgeizig, wie sie nun mal sind, setzten sie das auch um.“

Jetzt dagegen, fuhr er fort, „aufgrund des Numerus Clausus und der Aussicht auf ein hohes Einkommen werden die Streber Ärzte und die aus der letzten Bank werden Lehrer. Und beide sind sie falsch an diesem Platz. Die Streber wollen immer noch nichts vom Leben wissen und deshalb auch nichts von ihren Patienten. Die sehen doch nur den medizinischen Fall und ihren Platz als Topverdiener. Die schlechten Schüler aber tragen ihr Desinteresse an der Schule in die Schule selbst hinein, was auch nicht gut gehen kann.“

Je länger das Gespräch zurückliegt, desto öfter erinnere ich mich daran und frage mich, ob der Mann nicht Recht hatte, für einen Mediziner also erstaunlich intelligent war. Was wäre, wenn? Nicht 68 und seine Folgen, sondern der Numerus Clausus in die Pisa-Katastrophe geführt hat? Ganz abgesehen von der Plage mit all den verklemmten Ärzten, die jedes Wort für Zeitverschwendung halten? Und wenn die fehlende Disziplin und der fehlende Lerneifer in den Schulen nicht nur das Problem neuer, schwieriger Schülern ist, sondern auch das von Lehrern, die diese Schüler besser verstehen, als es der Sache gut tut? BRIGITTE WERNEBURG