Streiten bis zum Absaufen

AUS LAASCHE SIMONE SCHMOLLACK

Vieles im Haus erinnert noch ans Hochwasser. Die Feuchtigkeit hat sich tief ins Gemäuer gefressen. Man riecht sie. Doch bevor Wilhelm und Ingrid Pewsdorf neue Auslegware kaufen, müssen sie noch Aufräumarbeiten erledigen, die jedem Hochwasser folgen. Als die Elbe wieder in ihr Bett zurücksank, haben die beiden Rentner Maschinen und Gartengeräte, die sie in ihrem Bad und in einzelnen Zimmern in Sicherheit gebracht hatten, wieder rausgestellt. Sie haben die Sandsäcke des Technischen Hilfswerks (THW) geleert und sorgfältig gefaltet. Jetzt müssten sie nur noch den Zaun richten und die Haustür gangbar machen. Die beiden Alten wollen endlich wieder ihre Ruhe haben.

Das Wasser, das im April das Dörfchen Laasche im niedersächsischen Wendland eingeschlossen hatte, ist lange weg. THW, Bundeswehr und Feuerwehr auch. Knapp drei Wochen waren sie hier im Einsatz, bis zu 600 Mann. Um ein 26-Einwohner-Dorf zu sichern. Noch einmal so viele Menschen kommen an den Wochenenden und im Sommer hierhier in ihre Ferienhäuser. Laasche ist zwar wieder trocken, aber die Wiesen, Felder und Wälder drumherum sind noch aufgeweicht. Das Vieh der Pewsdorfs steht im Stall, die Kühe würden im Schlamm versinken.

Pewsdorfs gegen alle anderen

So war das schon mal. Beim Hochwasser 2002 war der Deich um das Dorf an einer Stelle gebrochen. Damit hatte niemand gerechnet. Frühjahrshochwasser in den Elbniederungen – damit kennen sich die Laascher aus. Aber 2002 war alles anders. Der Pegelstand im nahen Wittenberge betrug 7,34 Meter. Bis zu den Knöcheln stand in Laasche das Wasser in den Häusern. Auch die Pewsdorfs hatte es getroffen.

Ihr Sohn, Wilhelm jr., der den Hof gegenüber bewirtschaftet und auch mit Vermietungen Geld macht, musste seine Ferienwohnungen komplett sanieren. „Das ist schlimm“, sagen auch seine Eltern. Sie schieben sich auf die Eckbank an ihrem Küchentisch. Ingrid Pewsdorf streicht sich müde durchs kurze, graue Haar, ihre Finger weisen die typischen Alterskrümmungen auf: „Uns Bauern wird nichts geschenkt.“ Ihr Mann, in Holzfällerhemd und Kordhose, brubbelt: „Wir wollten in Ruhe alt werden. Und jetzt auch noch das.“ Damit meint Pewsdorf nicht die Flut. Er meint den Streit, der sich um den Deich dreht. Die beiden Alten befinden sich mittendrin: Pewsdorfs gegen den Rest der Welt. Der Rest der Welt ist klein in Laasche, aber riesig für Leute wie sie. Weil er ihnen mit Gesetzen kommt. Und weil er sich als Gemeinwohl tarnt. Dabei schließt das Gemeinwohl auch die Pewsdorfs ein.

Es begann kurz nach der verheerenden Überschwemmung 2002. Um eine erneute Katastrophe abzuwenden, ordneten die Samtgemeinde Gartow, zu der Laasche gehört, und der Deichverband Gartow die „Prüfung eines ausreichenden Hochwasserschutzes“ an und gaben eine Umweltverträglichkeitsstudie in Auftrag. So schreibt es das EU-Recht vor, Passus Naturschutz. Den Zuschlag bekam das Landschaftsarchitekturbüro von Heinrich Lamprecht in Hannover. Lamprecht sollte herausfinden, ob der alte Deich saniert werden kann oder ob ein neuer gebaut werden muss.

Ein normaler Vorgang. Hunderte Male schon ist er in Hochwasserregionen durchgezogen worden. In Laasche allerdings gibt es bis heute keine Lösung. Im Gegenteil, es ist ein Prozess in Gang gekommen, in dem es scheinbar nur noch am Rande um Hochwasserschutz geht. Und ansonsten um Macht, öffentliche und private Interessen. Mittendrin: die Pewsdorfs. Sie sorgen dafür, dass das Ganze ein schwebendes Verfahren ist und bleibt, das die Gemeinde noch dazu Geld kostet. Wie viel genau, darüber wird gemunkelt. Mal ist von ein paar tausend Euro die Rede, mal von einer Viertelmillion. Das Geld ist aber nicht in den Deichbau geflossen, sondern im Papierkrieg versickert. Gut möglich, dass bis zum nächsten Hochwasser weitergestritten wird und die Laascher mal wieder absaufen.

Die Pewsdorfs breiten auf dem Küchentisch eine Karte aus, die den Verlauf des alten Deichs und den eines möglichen neuen zeigt. Ein Wirrwarr aus Strichen, Markierungen, Zahlen, Punkten, nur Eingeweihte können damit etwas anfangen. Wilhelm Pewsdorf, 77, ratscht mit dem Kugelschreiber auf dem Papier herum: „Hier geht der alte Deich entlang, weit hinter dem Dorf. Der hat niemanden gestört, der war immer sicher.“ Ingrid Pewsdorf, 70, unterbricht ihren Mann: „Der muss nur mal richtig saniert werden.“ „Und hier“, reißt ihr Gatte das Wort wieder an sich, „soll der neue Deich verlaufen, der kreist das Dorf viel enger ein und geht mitten durch private Ländereien.“ Beim letzten Satz schwellen die Gesichter der beiden vor Wut an, auf Frau Pewsdorfs Wangen bilden sich hektische Flecken: „Der Deich geht durch unseren Wald.“

Das Paar hat mit Bullenmast und Milchvieh seine Existenz bestritten, inzwischen führen Sohn und Schwiegertochter den Hof weiter. Die Alten haben sich vor wenigen Jahren ein neues Haus gebaut. Das wird vom Hochwasser regelmäßig umspült, und davor wollen natürlich auch die Pewsdorfs geschützt sein. Nur eben anders, als es die anderen Laascher für richtig halten.

Für die ist die Sache sonnenklar: Deichneubau. Ein Grund sind auch die naturgeschützten Pflanzen, die sich inzwischen am Fuß des alten Damms angesiedelt haben. Die müssen erhalten bleiben – EU-Naturschutz. Der scheint die Pewsdorfs aber nicht zu interessieren, sie winken ab: „Pah, die paar Gräser! Sollen die doch umgesetzt werden!“

Das aber käme teuer, warnt Gutachter Lamprecht. Viel teurer als ein neuer Deich, zu dem er rät. Der soll höher und breiter als der alte sein und das Dorf enger einschließen. Damit sei er dann auch sicherer. Der Nachteil: Der Deich würde über privates Land gehen. Einige der Laascher haben rasch zugestimmt und ihre Flächen verkauft. Trockene Füße sind ihnen wichtiger als „das bisschen Land“. Andere haben bis vor kurzem um Preise gefeilscht oder handeln immer noch. Nur die Pewsdorfs bleiben stur. Sie wollen ihren Wald nicht hergeben. Das nervt Heinrich Lamprecht, ebenso den Deichverband und die Gemeinde. So viel Aufhebens wie in Laasche werde sonst nie gemacht, meint Lamprecht. „Ich kenne kein anderes Verfahren, das so kompliziert ist.“ Und: „Irgendwann muss mal Schluss sein.“

Der aktuelle Klimabericht des US-amerikanischen Goddard Institute for Space Studies sagt: Schon in Kürze werden Überschwemmungen zum Dauerzustand, Hochwassergebiete müssen mit künftig extremen Pegelständen rechnen. Derlei Argumente erreichen die Pewsdorfs nicht. Bisher ist es doch immer gut gegangen. Irgendwie. Und irgendwann wird auch das Haus wieder trocken. Sie wollen vor allem eines: ihren Wald behalten. Der schenkt ihnen im Sommer Friedlichkeit und im Winter Feuerholz. Den haben sie sich hart erarbeitet. Jeden Tag haben sie geschuftet, es gab keinen Sonntag und immer späten Feierabend. Nie sind sie in den Urlaub gefahren. Wer hätte in dieser Zeit das Vieh versorgt, wer die Milch abgefüllt? Der Wald entschädigt sie heute für das alles, er ist ihr Urlaub vom Arbeitsleben. In die Stimme des Altbauern legt sich Zorn: „Wenn wir dem Verkauf nicht zustimmen, werden wir enteignet.“

Enteignung als letzte Option

Das kann passieren. Und so, wie es aussieht, ist es notwendig. Doch Enteignung ist ein äußerst komplizierter Vorgang, eine allerletzte Option. So etwas entscheidet eine Schiedskommission, die genau rechnet, abwägt, Preise vorgibt. Sie bezeichnet das Ganze auch nicht als Enteignung, sondern als „Zwangsabgabe“. Den Pewsdorfs ist der Name egal, sie sagen und meinen „Enteignung“.

„Wirtschaftlich wertvoll sind die Flächen nicht“, sagt Heinrich Lamprecht. Wer bei Vorgängen wie in Laasche clever ist und den Preis für sein Land hochtreibt, kann an solchen Aktionen sogar ganz gut verdienen. Das hat es hundertfach gegeben, auch im Wendland. Bleibt indes jemand stur und wird tatsächlich enteignet, bekommt er am Ende meist viel weniger. Zugrunde gelegt werden dann nämlich die aktuellen Bodenpreise. Wie hoch die in Laasche sind, daraus wird ein Geheimnis gemacht. Eckehard Abel vom Niedersächsischen Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) weiß es, aber er sagt nichts: „Schweigepflicht.“ Peter Hildebrandt vom Deichverband Gartow kann nur schätzen: „Einige tausend Euro für eine kleine Waldfläche.“ Würden die Pewsdorfs rechnen, wüssten sie, dass sie von dem Geld Feuerholz für die nächsten zwanzig Jahre kaufen könnten. Würden sie einlenken, könnten es sogar noch einige Jahre mehr sein.

Aber sie wollen partout nicht. Inzwischen hat der Streit die Familie erreicht. Tochter Insea wohnt wenige Häuser von ihren Eltern entfernt am Dorfeingang, sie kämpft mit allen Mitteln für den neuen Deich. Mit ihr ein Vetter, der gegenüber einen Campingplatz betreibt. Als der Streit um den Deich anfing, sind sich Eltern und Tochter aus dem Weg gegangen. Heute reden sie kein Wort mehr miteinander.

„Bauern geben kein Land her“

Den Deichbauern aber läuft die Zeit davon. Sie wollen und können sich nicht länger hinhalten lassen von Quertreibern wie den alten Pewsdorfs. Und sie hassen ihn inzwischen, den ewigen Papierkrieg. Deshalb haben sie im Dezember schon mal ein paar Meter Deich gebaut – auf öffentlichem Gelände.

In den Augen der Pewsdorfs eine glatte Fehlinvestition. Doch sie werden sich damit abfinden müssen. Denn vor einigen Tagen hat Niedersachsens Landesbetrieb den vorzeitigen Baubeginn von weiteren 550 Metern Trasse auf der „Laascher Insel“ genehmigt. Als Konsequenz aus der Flut im April, Kosten: 300.000 Euro. Der Rest des Damms soll im Anschluss an das offiziell genehmigte Planfeststellungsverfahren gebaut werden – früher als geplant.

Eine Niederlage für die Pewsdorfs. Die aber bleiben eisern: „Richtige Bauern geben kein Land her. Sie kaufen höchstens dazu. Das ist eine alte Regel.“ Eine neue Regel lautet: Das nächste Hochwasser kommt bestimmt.