50 Tonnen Illusion

Nach den Vorgaben eines überlasteten Computers: Die Serpentine Gallery in London zeigt in einer Gesamtschau Arbeiten des Künstlers Thomas Demand, erstmals auch seine neue Arbeit „Grotte“

VON JULIA GROSSE

Die Kunst lockt in ihren großen, gefräßigen Schlund. Wie die spitzen Zähne eines urzeitlichen Ungeheuers ragen in Thomas Demands neustem Projekt „Grotte“ wundersame Stalagmiten nach oben und tröpfeln elegante Stalaktiten nach unten. Die Postkarte einer Grotte auf Mallorca lieferte die Vorlage für ein enormes, über 50 Tonnen schweres Kartonmodell, das nun erstmals als riesige Fotografie in der Londoner Serpentine Gallery zu sehen ist, zusammen mit anderen, zuvor schon im New Yorker MoMA gezeigten Arbeiten.

In Demands realem Vorbild, der Tropfsteinhöhle, wächst alles allein durch das stetige Fließen von kalkhaltigem Wasser, winden sich befremdliche Formen wie Skulpturen und feiern dabei die Natur als vollkommensten aller Künstler. Sie zieht die Zeit in die Länge wie Gummi, das Gestein braucht für zehn Millimeter Wachstum mitunter ein ganzes Jahrhundert. Auch Demands „Grotte“ selbst unterlag einem langwierigen Entstehungsprozess, Tonnen hellgrauer Pappe wurden scheibchenweise zu Tropfstein-artigen Formen übereinander geschichtet, die nun in ihrer feinen Rasterhaftigkeit wie eine lückenlose Matrix vor uns liegen. Die Fotografie des Modells in der Ausstellung zieht einen perspektivisch in die Tiefe eines Ortes, den es nicht gibt, und wieder einmal fallen wir auf Demands perfekte Trugbilder der Realität herein.

Selbst die Serpentine musste sich der Verwandlung in ein höhlenhaftes Gebilde beugen. Sonst kühler White cube, ist der Ausstellungsraum nun ein düsterer Blätterwald, überzogen von einer Tapete, die der Berliner Künstler nach den Strukturen seines minutiös aus grünem Papier gefertigten Efeus entwickelte. In der neuen Serie „Klause“ überwuchert er ein weißes, tristes Haus, Tatort eines grausamen Verbrechens. Belanglos und beliebig zeigten ihn die Pressebilder, die Demand als Vorlage dienten. Ein Kind soll in der weiß verputzen, trostlosen Kneipe in Burbach Opfer eines Pädophilenzirkels geworden sein.

In der Ausstellung nun befreit sich der Efeu ungehalten aus Demands fotografierter Papierrekonstruktion des Schreckens und überwuchert den gesamten Galerieraum. Die Farbe der Tapete und damit des Efeus wechselt. Demands ältere Bilder der verdoppelten Wirklichkeit, so „Zeichensaal“ (1996) oder „Terrasse“ (1998), erscheinen vor einem frostigen Weiß, bei „Klause“ wird die Efeu-Tapete fast schwarz, wie bei allmählich sich zersetzenden Organismen.

Das vielleicht Faszinierendste an der beklemmenden Beschaffenheit des Ausstellungsraumes und seinem permanenten Spiel mit Tiefe und Illusion ist aber die Tatsache, dass die nasse, die feuchte Atmosphäre aus Efeu und Tropfstein aus den Systemen von Computern stammt. Bei der Konstruktion der „Grotte“ kapitulierte der Rechner ab einem bestimmten Punkt an der Datenmenge, mit der er zur Errechnung der Tropfsteinformen gefüttert wurde, und entwickelte eigene, von Demand nicht vorgesehene Alternativen. Die Papierschneidemaschine spuckte brav alles aus, wodurch nun das enorme Modell tatsächlich nicht mehr nach den Vorgaben eines Menschen, sondern denen einer überlasteten Maschine entstand.

Bei allem theoretischen Überbau, der Demands täuschend realen, allerdings vollkommen geruchslosen Räumen immer wieder zugeschrieben wird, entfalten die Fotografien durch ihre raffinierte Präsentation auf der elegant-düsteren Tapete der Serpentine Gallery auch eine enorm ästhetische Wirkung. Ist es reiner Zufall, dass der Sponsor der Schau Wallpaper heißt? Das Magazin, das als Stilfibel des guten, vielleicht nur gutbetuchten Geschmacks gilt. Zur Eröffnung drängten sich Miuccia Prada, Dior-Designer Hedi Slimane wie die Megasammler Gary und Sarah Wolkowitz an der Weinbar.

Exklusiv ist auch die Installation der „Grotte“ selbst. Ein Ingenieur musste versichern, dass die hinter einer doppelten, rund 500 Kilo schweren Verglasung steckende Fotografie nicht durch den Steinboden in den Keller krachen wird. Und schließlich waren es, fast wie eine Art symbolischer Sieg der sich verselbstständigten Technik, auch keine menschlichen Hilfskräfte mehr, die Demands virtuelle „Grotte“ an die Wand hievten, sondern ein eigenartig summender Kran, der durch die höhlenartige Galerie krabbelte, wie eine fremdartige Riesenspinne.

Ab Mitte Juli wird die Serpentine ihren jährlichen Sommerpavillon eröffnen und diesmal ist es ein mit Helium gefüllter Baldachin des Architekten Rem Koolhaas und des Ingenieurs Cecil Balmond, der über dem Gebäude schweben wird, in dem Lesungen und Filmvorführungen stattfinden. Thomas Demands Innereien werden bis dahin aus ihrem höhlenartigen Ausstellungsraum herausgekrochen sein und sich in Form weiterer Efeu-Tapete an die Wände des Veranstaltungsraumes und dank einer Projektion auch auf das schwebende Heliumkonstrukt heften.

Bis 20. August, Katalog (Schirmer/Mosel Verlag) 59,– €