: Imperien in der Abenddämmerung
MUSIKFILM Deutsche Erstaufführung: Das Kino in der Brotfabrik zeigt die zweifache Elegie „Empires Of Tin – Vic Chesnutt in Wien“ des vom Punk-Ethos befeuerten Regisseurs Jem Cohen
VON ROBERT MIESSNER
„Während sie noch standen, glaubten sie schon zu marschieren“: In diesem knappen Satz beschreibt der trunkgebundene österreichische Schriftsteller Joseph Roth die Wirkung des von Johann Strauss komponierten „Radetzky-Marsches“ auf seine Zuhörer.
Das komplette Gegenteil von Exerziermusik spielen der surreale Songwriter Vic Chesnutt, das anarchistische Klangkollektiv A Silver Mt. Zion und Guy Picciotto von der Post-Hardcore-Band Fugazi in Jem Cohens „Empires Of Tin – Vic Chesnutt in Wien“: langgedehnten Folkrock, osteuropäisch anmutende Instrumentalstücke und genau dosierte Geräuschattacken. Dazu liest der Schauspieler Bobby Sommer Auszüge aus Joseph Roths Romanen „Die Kapuzinergruft“ und eben „Radetzkymarsch“.
Gedreht wurde „Empires Of Tin“ am 1. November 2007, dem Abschlussabend der Viennale, während eines multimedialen Konzerts im Wiener Gartenbaukino. Auf den Bühnenhintergrund wurden Fotos und Filmsequenzen projiziert; Cohen hat also einen Film im Film gedreht. Diese Verzahnung ist das passende Verfahren einer zweifachen Elegie: Wo Roths Romane den Untergang der österreichisch-ungarischen Monarchie beklagen, dockt Cohen daran Bilder von der Abenddämmerung des nordamerikanischen Imperiums an. „Empires Of Tin“ skizziert zwei Metropolen in dem Moment, da ihr Dasein kritisch wird. „Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie / Hindurchging, der Wind!“, heißt es bei Bertolt Brecht. Es darf angenommen werden, dass Cohen ihn kennt.
Er zeigt Archivmaterial aus Wien, ein Feuerwerk; dann Szenen aus dem Ersten Weltkrieg, nach dem Brecht seine Zeilen schrieb: Leben im Schützengraben, verkohlte Bäume, Soldaten unter Gasmasken, ein Massengrab. Es empfiehlt sich, den Gesichtsausdruck der Musiker zu beachten, während hinter ihnen diese Bilder laufen. „Der Feigling ist mutiger“, singt Chesnutt.
Dann aktuelle Momente aus New York: Das Zentrum der Macht befindet sich im Belagerungszustand; es wird von Touristen durchstreift. Eindringlicher noch als die zerschlissene US-Fahne, die in der Mitte des Films weht, ist die todtraurige Harlekinfigur über der Türfront eines vermutlich aufgegebenen Ladengeschäfts.
Dabei wäre man schlecht beraten, in dem in Kabul gebürtigen Regisseur Jem Cohen einen Romantiker des Verfalls sehen. Der vom Punk-Ethos befeuerte Cohen hat mehrere Filme gedreht, in denen er sich als Kundschafter städtischer Räume erweisen konnte. Einer von ihnen, „Lost Book Found“ ist ein von Walter Benjamin inspiriertes Porträt New Yorks. Das Hollywood-Kino findet er wenig inspirierend. Als politischer Kommentator will er sich nicht sehen, doch betonte er in einem Interview mit Hunger TV: „Man müsste mit Blindheit geschlagen sein, wenn man ausblendet, dass Ökonomie und Politik die Welt formen. Wenn Filme die Aktualität dieser Welt reflektieren sollen, dann müssen sie Gesellschaftliches formulieren.“
Cohen hat mit Musikern wie den mit A Silver Mt. Zion verschwägerten Godspeed You Black Emperor!, Patti Smith, Tom Verlaine und den Jazzpunks von The Ex gearbeitet. Der Verbindung zu Fugazi liegt eine langjährige Freundschaft zugrunde; Cohen begleitete die aktivistisch-innovative New Yorker Band über zehn Jahre und drehte dabei ihr Porträt „Instrument“. Am International Center of Photography, Manhattan, hat er einen Workshop mit dem schönen Titel „Dokumentarfilm als poetische Kraft“ geleitet. Kein Grund also, in linke Melancholie zu verfallen; stattdessen noch einmal Vic Chesnutt. In einem urplötzlich sehr energischen Moment von „Empires Of Tin“ singt der vor vier Jahren, im Dezember 2009 Verstorbene: „Er ist nicht Satan / Er ist nur ein Vorstandsvorsitzender / Er ist nicht der Teufel / Er ist nur ein Kapitalist / Er ist nicht Luzifer / Er ist nur ein Profiteur.“
■ „Empires Of Tin“: Kino in der Brotfabrik, 19.–23. 12., 25. 12, 19 Uhr