: Liebe in der Abseitsfalle
Die Liebesgeschichte „Der Mittelstürmer und die Linienrichterin“
VON LUIS FERNANDO VERÍSSIMO
Der Mittelstürmer und die Linienrichterin waren ein Paar. Niemand wusste davon. Niemand durfte davon wissen. Er war dagegen gewesen, dass sie den Beruf der Linienrichterin ergriff. Das war nichts für Frauen. Aber sie hatte hartnäckig darauf bestanden. Wollte es unbedingt. Hatte einen Schiedsrichterlehrgang absolviert und war als eine der ersten Frauen in Brasilien Schiedsrichter geworden. Als Schiedsrichterassistentin hatte sie angefangen. Als Linienrichterin.
Sie war eine gute Linienrichterin. Jedes Abseits zeigte sie präzise an. Stand wie ein Denkmal mit erhobener Fahne. Unumstößlich, majestätisch wie ein Denkmal, dem Feld zugewandt. Und ihr Profil war schön anzusehen. Unter der Uniform der Linienrichterin zeichneten sich ihre Formen ab. Ihre wohlgeformten Beine. Die Zuschauer pfiffen, machten Witze, riefen sie „Linien-Luder“. Oder Schlimmeres, wenn sie mit einer Entscheidung nicht einverstanden waren. Sie hörte nicht hin. Konzentrierte sich auf das Spiel. Sie wollte gut sein als Linienrichterin. Nicht zuletzt, um das Geld zusammenzubekommen, das sie brauchten, um zu heiraten, denn seine Karriere als Mittelstürmer lief nicht besonders. Er aber konnte sich damit nicht abfinden.
„Du weißt schon, dass niemand von unserer Beziehung erfahren darf.“
„Warum?“
„Stell dir einmal vor, du bist Linienrichterin in einem Spiel, in dem ich spiele. Da genügt es, ein Abseits zu übersehen, und schon ist die Hölle los.“
„Das ist Unsinn. Die Leute wissen, dass ich ehrlich bin. Dass ich nie etwas durchgehen lasse. Egal bei wem.“
„Das glaubst du. Die Leute werden misstrauisch sein.“
„Werden sie nicht. Jedermann weiß, dass ich unparteiisch bin.“
„Oder du zeigst Abseits an, lässt ein Tor nicht gelten, das ich geschossen habe, nur um zu zeigen, wie unparteiisch du bist. Das wäre dann mein Nachteil.“
„So etwas würde ich nie tun!“
„Ich weiß nicht, ich weiß nicht.“
Sicherheitshalber entschieden sie, dass niemand von ihrer Beziehung erfahren sollte. Sie würden sich heimlich treffen. Eine Liebe im Verborgenen. Der Mittelstürmer und die Linienrichterin.
Mehrere Spiele hintereinander hatte er kein Tor mehr geschossen. Seine Karriere hatte ganz gut begonnen, es hatten sogar ein paar Talentsucher, die ihn nach Europa hätten mitnehmen können, ein Auge auf ihn geworfen, aber ein Mittelstürmer, der keine Tore schießt, ist wie ein Rennpferd, das nicht rennt, ein Maler, der nicht malt oder ein Klempner, der nicht zur Arbeit erscheint. Er übt seinen Beruf nicht aus. Und während seine Karriere als Mittelstürmer ins Stocken geriet, ging es mit ihr als Linienrichterin stetig bergauf. Sie übte ihren Beruf nicht nur gewissenhaft aus, war korrekt und ehrlich, und kein einziges Abseits entging ihr, sondern sie war auch noch schön. Ihr Profil, ihre Formen und ihre attraktiven Beine waren auch sehr erfolgreich. Und sie fand mehr und mehr Gefallen an diesem Erfolg.
Eines Tages geschah es. Sie wurde für ein Spiel eingesetzt, in dem er spielte. Und es war nicht irgendein Spiel. Ein Scout war zugegen im Stadion, um ihn zu beobachten. Wenn ihm gefiel, was er sah, würde er ihn mitnehmen nach Deutschland. Nach Deutschland! War ihr klar, was dies hieß? Sie würden nach Europa gehen, alle beide. Sie müsste nicht mehr als Linienrichterin arbeiten, und sie könnten endlich zu ihrer Beziehung stehen. Heiraten, ohne sich länger verstecken zu müssen. Das Einzige was er tun musste, war ein Tor schießen in diesem Spiel. Am besten zwei oder drei Tore. Aber eines genügte bereits. Ein einziges winziges Tor!
Und in der siebzehnten Minute der zweiten Halbzeit bekam er einen Ball zugespielt, einen guten Ball mit guten Chancen, ihn in ein Tor zu verwandeln, und sie – die die ganze Zeit vor dem Spiel über nichts anderes nachgedacht hatte als darüber, was sein Erfolg für sie beide bedeuten würde: das Ende ihrer Laufbahn als Schiedsrichterin, das Ende des Beifalls, der Pfiffe, des Lobes – hob ihre Fahne. Abseits. Acht Minuten später noch einmal. Er mit allen Chancen auf das eine Tor. Super Position, und sie hob ihre Fahne. Wie versteinert. Abseits.
Niemanden wunderte es, dass er zu ihr hin stürzte und sie anbrüllte. Es kam oft vor, dass ein Spieler die Entscheidung eines Linienrichters derart vehement anzweifelte. Seltsam war nur, was er brüllte. „Es ist aus zwischen uns! Alles aus!“
Der Fauxpas des Mittelstürmers blieb nicht ohne Folgen, denn nur fünf Minuten später übernahm er im Abseits den Ball und verwandelte ihn, und die Linienrichterin reagierte nicht. Und sie hob nicht nur nicht ihre Fahne, sondern sie warf sie weit hinter sich, stürmte aufs Feld und warf sich in den Haufen der Spieler, die den Mittelstürmer umarmten, und sie umarmte ihn auch, küsste ihn, bat um Verzeihung und sagte, dass sie ihn liebte. Der Mittelstürmer ging nicht nach Europa (dem Talentsucher hatte das Chaos gar nicht gefallen, und er hatte Angst bekommen vor dem womöglich nicht einfachen Spieler), und sie konnte nach dem Skandal nicht mehr weiter als Linienrichterin arbeiten. Aber beide lassen ausrichten, dass sie nun verheiratet sind und sehr glücklich, denn es ist kein Geheimnis, dass die Liebe stärker ist als alles andere.
LUIS FERNANDO VERÍSSIMO, Jahrgang 1936, zählt zu den großen Autoren Brasiliens. Jüngst erschien von ihm auf Deutsch „Meierhoffs Verschwörung“ (Droemer, 160 Seiten, 14,90 Euro) und ein Beitrag für den Band „Anpfiff aus Brasilien“ (TFM Verlag, 160 Seiten, 12,80 Euro). Unser Text wurde übersetzt von Michael Kegler