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Archiv-Artikel

Das Land der schönen Pferde

Savas nennt sie im Gegensatz zu Wolkenkratzern „Tiefenkratzer“, die unterirdischen Städte von Kappadokien. Einige wurden bereits vor 4.000 Jahren acht Stockwerke tief unter die Erde gebaut. Später dienten sie verfolgten Christen als Zuflucht

VON KORNELIA STINN

Es war einmal vor Millionen von Jahren. Die Vulkane Eriyes Dagi, Hasan Dagi und Melendiz Dagi wetteiferten darin, glühende Asche ins weite Land zu spucken. Die Asche erhärtete zu einer kittartigen Masse. Neue glühende Tuffasche legte sich darauf. Eiszeiten kamen und gingen, Wind und Wetter schlugen ihre Schneisen. Und so wuchs ein Wald voller Schluchten mit riesigen steinernen Gestalten heran, der das ganze Land bedeckte. Da gab es zum Beispiel Pyramiden, zwischen denen Menschen sich wie Spielzeugfiguren ausnahmen. Phallussymbole gewaltigen Ausmaßes protzten in der Landschaft herum. Oder bis zu zwanzig Meter hohe Felsnadeln, von denen es hieß, dass darin Feen hausten. Wen wundert es, dass auch Menschen auf die Idee kamen, den weichen Tuffstein auszuhöhlen und sich darin wohnlich einzurichten. Ganze Höhlendörfer entstanden. Und weil dieses Land wegen seiner Pferdezuchten berühmt wurde, nannte man es Katpatuka – das Land der schönen Pferde.

Im zentralanatolischen Kappadokien treiben bilderbunte Geschichten ihre Blüten. Jene aber von der märchenhaften Tuffsteinlandschaft zwischen Nevsehir, Ürgüp und Avanos ist wahr. Keiner, so will es scheinen, weiß sie besser zu erzählen als Savas Öz. Savas ist Reiseführer. Zusammen mit Mehmed Sahim, dem Busfahrer, holt er die achtköpfige deutsche Reisegruppe am Flughafen in Ankara ab. Kayseri, sagt Savas, wäre der günstigere Flughafen gewesen, um nach Kappadokien zu kommen. Von da seien es nur noch sechzig Kilometer bis ins Herz der Riesenfelstürme und Tuffsteinhöhlen. So aber hat er fünfhundert Kilometer lang Zeit, die Angekommenen neugierig auf seine Heimat zu machen.

Savas lernte als Sohn eines Teppichhändlers in seiner Jugend in der Schweiz Deutsch. In vierzig Ländern ist er zwischenzeitlich herumgekommen. Er fühle sich, so der gut gebräunte 35-Jährige, „wie eine orientalische Blume in einer westlichen Vase“. Savas, der nach seiner Rückkehr in die Türkei Geschichte studierte und Fremdenführer wurde, und Mehmed, der Busfahrer – beide sind sie in Kappadokien geboren. Mehmed wohnt sogar in einer echten Höhle.

Gleich am nächsten Tag bringt Mehmed Pekmes mit. Das ist ein honigsüßer Sirup, den er selbst hergestellt hat. Weintrauben, die auf seinen eigenen Ländereien heranwachsen, keltert er und kocht anschließend den Saft acht bis zehn Stunden unter kräftigem Rühren. Pekmes soll gegen Husten, Brustbeschwerden und noch allerlei sonstige Krankheiten taugen. Serviert an Eis, steht er im Ruf als Partyrenner bei gesellschaftlichen Anlässen.

Mehmed serviert ihn am Parkplatz, wo man einsteigt ins Rosental. Das ist eines der vielen Täler, die durch Schluchten führen, vorbei an kuriosen Steingebilden. „Güllüdere Vadisi – 4.500 m“ steht da, und rosig sehen die Felsen wegen ihres Eisengehalts tatsächlich aus. „Vorsicht, der Tuffstein ist weich und sandig. Man rutscht leicht aus“, warnt Savas. Gutes Schuhwerk mit kräftigem Profil ist ein Muss! Steil geht es bergab. Die Ersten verschwinden bald wie winzige Spielzeugfiguren zwischen kegelig geschwungenen Steinriesen. Plötzlich findet man sich an einer Stelle, wo der Fels nur mit Hilfe von zwei aufeinander folgenden wackeligen Stahlleitern zu bezwingen ist … Dann wieder blickt man durch Felsenturmlandschaften in das weite Land hinein. Im Hintergrund formten die spukfreudigen Vulkane den Burgfelsen von Uchisar, einen sechzig Meter hohen, von Gängen und teils zugeschütteten Hohlräumen zerklüfteten Tuffsteinhügel. Einst sollen hierin tausend Menschen gelebt haben.

In Kappadokien, sagt Savas, sei die Wiege der Tulpenkultur. Wer weiß denn schon, dass diese Blume, die man immer nur mit Holland verbindet, ihre Reise um die Welt in Kappadokien antrat? Lale heißt sie hier und findet sich auch als Motiv in zahlreichen Teppichen wieder. Savas erzählt die Geschichte des Bauernsohns Ibrahim, der sie im 15. Jahrhundert von Nevsehir an den Hof des Sultans nach Istanbul brachte und später als Botschafter nach Holland.

Nach weitläufigen Ausblicken verengt sich das Rosental wieder, steile Felswände ragen links und rechts empor. Dann wieder tauchen zwischen Maulbeeren und Ölweiden kleine Gärtchen auf, in denen im Sommer Pflaumen reifen, Tomaten oder Kürbisse gedeihen. Eine Vielfalt an steinernen Monumenten, dem Matterhorn oder den Dolomiten von der Form her ähnlich, wartet am Weg durch die Schlucht. Tauben wohnen in den winzigen Verschlägen, die wie Fensterchen in den Felsengebilden aussehen.

Die Taube gilt unter den Muslimen als heiliges Tier. Savas weiß sogar vom Beruf des Taubenschlagreinigers zu erzählen. Dieser kraxelt in schwindelnde Felsenhöhen, um die Behausungen dieser Vögel zu reinigen. Die eindrucksvollsten Taubenschläge findet man im Taubental. Die Legende besagt, dass einst der Prophet Mohammed auf seiner Flucht nach Medina durch die Hilfe von Tauben und Spinnen vor seinen Verfolgern gerettet wurde. Er verbarg sich in einer Höhle. Unmittelbar danach spann eine Spinne ein Netz in den Höhleneingang. Eine Taube legte ihr Ei hinein. Das unversehrte Taubennest war für die Verfolger Hinweis genug, dass kein Mensch den Eingang passiert haben könne.

Auch in Kappadokien boten zahlreiche Höhlen und vermutlich mindestens 50 unterirdische Städte Verfolgten Schutz. Savas nennt sie im Gegensatz zu Wolkenkratzern „Tiefenkratzer“. Die bedeutendste dieser unterirdischen Städte ist Derinkuyu, die vermutlich bereits vor 4.000 Jahren acht Stockwerke tief unter die Erde gebaut wurde und später verfolgten Christen als Zuflucht diente. Dass aber der weiche Tuffstein keinesfalls Garant für solide Bauweise ist, zeigt das Höhlendorf Cavusin in der Nähe des Rosentals. Hier brach 1963 in einer Nacht eine Felswand ab und zerstörte den Ort. Der 75-jährige Belsiy Htesh, der am gegenüberliegenden Hang wohnt, erinnert sich: „Es war ein Lärm, als wenn der Berg einstürzte. Wir sind aus den Häusern gelaufen. Aber schon drei Tage vorher hörte man, dass der Berg kommt. Man bemerkte, dass der Fels sich bewegte. Er wollte uns sagen: ‚Geht weg!‘ “ Eine Mutter und ihr Kind kamen in jener Nacht um.

Doch ist das Leben im Tuffstein nicht nur von der Gefahr eines Einsturzes bedroht. Es drohen auch gesundheitliche Schäden, etwa wenn das Gestein schweflige Stoffe enthält. So musste ein ganzes Dorf evakuiert werden, weil alle seine Einwohner an Krebs erkrankt waren.

Nicht nur Häuser, auch Kirchen findet man verborgen im Fels. Über tausend soll es davon in Kappadokien geben, zu denen man zum Teil auf abenteuerlichen Wegen gelangt. Leichter zugänglich, mit eindrucksvollen Fresken bestückt und voller außergewöhnlicher Geschichten sind jene im Freilichtmuseum von Göreme. Auch der Ort Göreme ist außergewöhnlich. Überall ragen riesige Felskegel zwischen den Wohnhäusern heraus. Sie wurden zum Teil selbst zum Wohnraum. In manchen von ihnen entstanden skurril anmutende Unterkünfte für Touristen.

Weiter geht die Fahrt entlang einer Landschaft, wo das Auge zwischen Felstürmen spazieren geht. Felstürme, von denen manche ganz eigentümliche Geschichten zu erzählen scheinen.