Der Armen-Anwalt

Ein überfordertes Jobcenter, ein strapaziertes Sozialgericht und ein pfiffiger Anwalt, der die Schwächen des Hartz-IV-Systems offenlegt

Das Computerprogramm, mit dem alle Jobcenter arbeiten, produziert in Serie falsche Bescheide

AUS MÜHLHAUSEN UND NORDHAUSEN ASTRID GEISLER

Der Rechtsanwalt zögert, ob er reden soll. Was brächte es ihm? Einer wie Jan Keppler braucht keine Werbung mehr. Er wolle über den Termin nachdenken, sagt er am Telefon. Er bittet um Verständnis: Für die Behörde sei er doch sowieso schon der Staatsfeind Nummer eins! Ein paar Tage später richtet seine Sekretärin aus: kein Interview. Stattdessen schickt Keppler eine E-Mail, knapp zwei DIN-A4-Seiten, mit seiner Sicht der Dinge. Am Ende eine Bedingung: Sein Name muss geheim bleiben. Jan Keppler heißt also eigentlich anders.

Die Kanzlei Keppler liegt in einer Gründerzeitvilla, der Blick geht auf eine Lindenallee und die Türme der Altstadt. Die Lage ist genial – oder eine Frechheit, je nachdem, auf welcher Seite man steht. Gleich in der Parallelstraße befindet sich das Jobcenter Mühlhausen, offiziell „Arge Grundsicherung“ genannt. Jan Keppler ist dort ein bekannter Mann, denn bevor er sich selbständig machte, hatte er in der Widerspruchsabteilung der Behörde seinen ersten Job gefunden. Seine frühere Chefin könnte ihm fast zuwinken aus ihrem Büro im obersten Stock, so kurz ist der Weg. Ingrid Richter lacht hell auf bei der Vorstellung. „Ich versichere Ihnen“, ruft sie, „das werde ich nicht versuchen!“

Die Seite gewechselt

Über eine Karriere wie die Kepplers sollte die Geschäftsführerin des Jobcenters im Normalfall mit Freude berichten: Wie oft gibt es das schon – erfolgreiche Existenzgründungen, hier im ländlichen Thüringer Unstrut-Hainich-Kreis mit seinen 13,2 Prozent Arbeitslosen? Aber Ingrid Richter spricht nicht mal den Namen des Exkollegen aus. Sie nennt ihn „der gewisse Rechtsanwalt“ oder „der Herr – Sie wissen schon“. Manchmal sagt sie auch nur „das Phänomen“ und ringt sich dazu ein Lächeln ab.

Denn „das Phänomen“ ist übergelaufen zum Feind, der offiziell „Kunde“ heißt. Früher blockte Keppler für das Jobcenter die Beschwerden von Hartz-IV-Empfängern ab – heute setzt der Jurist sich für sie ein: Er verklagt in ihrem Namen seinen früheren Arbeitgeber, und das mit ungewöhnlichem Elan. Das zuständige Sozialgericht im 50 Kilometer entfernten Nordhausen ist dank Keppler zum Deutschen Meister in der Disziplin der Hartz-IV-Verfahren aufgestiegen. Fast jeder zehnte Bedürftige aus der Region hat 2009 geklagt, weil er sich vom Jobcenter zu schlecht gestellt fühlte. Das war deutscher Rekord.

Es ist Freitagmittag kurz nach zwölf. Im Dachgeschoss des Jobcenters sitzt die Geschäftsführerin mit einem Abteilungsleiter zusammen, der Pressesprecher der Arbeitsagentur ist eigens aus Gotha angereist. Das Thema ist heikel, das wissen die drei. Im Jahr 2008 kassierte das Jobcenter Mühlhausen 1.344 Klagen – die allermeisten vertreten von Rechtsanwalt Keppler. Damals hielt die Geschäftsführung das für eine Katastrophe. Doch 2009 waren es schon 2.815 Klagen, im Durchschnitt 11 pro Arbeitstag. Und 2010 könnten noch mehr folgen.

In der Chefetage des Jobcenters sitzt man Opfern eines gewissenlosen Abzockers gegenüber. So hört es sich zumindest an, wenn Ingrid Richter und ihre beiden Kollegen erzählen. Der Pressesprecher lobt die „Kundenorientierung“ der Behörde und die Qualität ihrer Beratungsarbeit. Nur bedrohten Kepplers Klagen diesen Standard. Denn statt 4 Mitarbeitern säßen inzwischen 21 in der Widerspruchsabteilung des Jobcenters. Dieses Personal fehle in anderen Abteilungen. Genau wie jene 633.000 Euro, die die Prozesse das Jobcenter 2009 kosteten. „Jeder Cent, den wir für die Klagen ausgeben, fehlt uns für Weiterbildung und Vermittlung“, warnt der Abteilungsleiter: „So machen sich die Kunden letztlich selbst ihre Integration in den Arbeitsmarkt kaputt.“

Es ist ein Tribunal, das hier bei Kaffee und Wasser stattfindet. Die Geschäftsführerin klagt, ihre Behörde werde wegen „Kleckerbeträgen“ vor Gericht gezerrt. Der Abteilungsleiter spricht gar von „Peanuts“. Er zieht ein Bündel Papier hervor – eine Entscheidung des Sozialgerichts. „Das Urteil lautet: Dem Kunden stehen pro Monat 20 Cent mehr zu!“ Denn seine Leute hätten es versäumt, das Arbeitslosengeld des Klägers von 376,50 Euro auf 377 Euro aufzurunden, der Mietzuschuss hätte von 248,30 Euro auf 248 Euro abgerundet werden müssen. Regelmäßig gehe es um solche Rundungsfehler, sagt der Abteilungsleiter. Jede Klage koste das Jobcenter bis zu 1.200 Euro.

Dann wird der Pressesprecher grundsätzlich. Selbst wenn das alles juristisch sauber sei, müsse man sich fragen: „Handelt der Anwalt auch verantwortungsvoll im Sinne seiner Mandanten?“ Die Antwort kommt vom Abteilungsleiter. „Es geht hier nicht mehr um inhaltliche Dinge, sondern nur noch darum, die Kunden in sinnlose Verfahren zu treiben.“ Sein Fazit: „Da hat jemand ein Geschäftsmodell gefunden.“

Für den Laien klingt es dennoch verwunderlich, dass ein Jobcenter immer wieder vergisst zu runden – obwohl das Sozialgesetz dies wörtlich verlangt. Die Erklärung ist: Das Computerprogramm, mit dem alle Jobcenter in Deutschland arbeiten, kann gar nicht runden. Es produziert in Serie falsche Bescheide, seit Jahren. Bleibt die Frage, warum keiner diesen Wahnsinn stoppt.

Paragrafendeutsch

Die Richter in Nordhausen hätten auch ohne Rundungsfehler mehr als genug zu tun. Denn Keppler klagt genauso eifrig gegen fragwürdige Heizkostenabrechnungen oder Mietzuschüsse. Und immer wieder geht es darum, ob das Jobcenter die Armen zu schlecht berät. Das Gericht ist vor drei Monaten in ein neues Gebäude umgezogen, weil im alten der Platz nicht mehr reichte. Neun Richter sind in den vergangenen fünf Jahren hinzugekommen. Drei weitere Kollegen sollen in diesem Jahr folgen – dann wäre auch im neuen Gebäude das letzte Zimmer besetzt.

Es ist kurz nach 9. Im Saal C hat die Juristin des Jobcenters vier wuchtige Lederkoffer neben ihrem Tisch aufgebaut, darin nur die Akten für diesen Tag. Eine junge Rechtsanwältin schleppt Prozessunterlagen in einer Plastikkiste in den Saal. Sie vertritt Keppler, der längst nicht mehr alle Fälle persönlich verhandelt. Der Richter drückt aufs Tempo. Wenn er Ergebnisse fürs Protokoll ins Diktiergerät rattert, klingt es, als werde das Recht hier inzwischen in Vorspulgeschwindigkeit gesprochen.

Fast jeder zehnte Hartz-IV-Empfänger hat geklagt, weil er sich vom Jobcenter zu schlecht gestellt fühlte

Nur die Menschen, um die es geht, scheinen zu bremsen. Menschen wie Ella L., eine Dame mittleren Alters, wattierte Jacke, schlichter Goldschmuck, ihre Hände krallen sich in eine schwarze Handtasche. Die Spätaussiedlerin aus Russland lebt von Hartz IV, genau wie ihre Tochter und ihr Enkelkind, die bei ihr wohnen. Das Jobcenter hat Ella L. nur noch 150 Euro statt 359 Euro im Monat überwiesen. Aber warum? Ella L. verstand das nicht. Sie suchte Rat bei der Caritas, ging schließlich zum Anwalt. Kein Einzelfall: Viele kommen zu Keppler, weil sie die Entscheidungen der Behörde nicht verstehen. Und so wühlen sich an diesem Morgen ein Richter, zwei Schöffen, die Juristin des Jobcenters und Kepplers Kollegin durch die Akte von Ella L. Die Klägerin sitzt stumm daneben. Sie spricht zwar Deutsch – aber nicht dieses.

Es geht um Abtretungserklärungen, wechselseitige Ansprüche und die Frage, ob Ella L. hätte verstehen müssen, dass das Geld auf dem Konto ihrer Tochter gelandet war. Der Richter bohrt: „Hat Ihre Tochter Ihnen Geld gegeben?“ „Haben Sie bekommen, was Ihnen zustand?“ Ella L. kneift die geröteten Augen zusammen, als helfe das gegen den Wortnebel um sie herum. „Ach“, sagt sie. „Na ja.“ Sie verreibt eine Träne. „Ich weiß nicht genau. Ist lange her.“ Eine Stunde geht das so. Aus Sicht des Jobcenters gehört Ella L. womöglich zu jenen, die sich mit sinnlosen Klagen ihre eigene „Integration in den Arbeitsmarkt“ verbauen. Der Richter jedoch verurteilt die Behörde, ihr einen Teil der Miete nachzureichen. Ella L. lächelt nicht mal. Es sieht aus, als wolle sie nur raus aus dem Gerichtssaal.

Jan Keppler gewinne knapp 80 Prozent der Streitfälle, schätzt der Direktor des Sozialgerichts Nordhausen. Jürgen Fuchs spricht respektvoll über die Arbeit jenes Juristen, der ihm jede Woche kiloweise Klagen ins Haus trägt. „Der Anwalt“, versichert er, „ist nicht die Ursache des Problems, selbst wenn er daran verdient.“ Im Gegenteil erfülle Keppler für die Bedürftigen sogar eine „klärende, beratende Funktion“. Selbst die Richter leisteten ja inzwischen Beratungsarbeit, die ein gut funktionierendes Jobcenter eigentlich selbst machen müsse, sagt Fuchs. Oft seien die Bescheide der Behörde für die Bedürftigen unverständlich, die Entscheidungen schlecht begründet. Fuchs unterstellt dem Jobcenter Mühlhausen nicht, schlechter zu arbeiten als andere Behörden. Nur nutze Keppler die Schwächen der Sozialgesetze und des Jobcenters so konsequent aus wie wohl kein Zweiter. Der Gerichtsdirektor warnt: „Wenn es in jedem Gerichtsbezirk derart engagierte Anwälte gäbe, wäre das System am Ende.“

Jan Keppler selbst klingt zufrieden. „Trotz meiner hohen Arbeitsbelastung habe ich meine Entscheidung, mich selbständig zu machen, nicht bereut“, schreibt er in seiner E-Mail. „Ich arbeite sehr erfolgreich, habe zwischenzeitlich einige Arbeitsplätze geschaffen und hohen Zuspruch von meinen Mandanten.“ Dass die Kollegen im Jobcenter „nicht begeistert sind, serienmäßig“ gegen ihn zu verlieren, nennt Keppler „menschlich nachvollziehbar“. Zumal das Sozialgesetzbuch kompliziert sei, die Mitarbeiter mit „teilweise missverständlichen“ Dienstanweisungen und schlechter Software klarkommen müssten und oft unzulänglich geschult würden. Wäre die Behörde besser aufgestellt, „wären sicher 5.000 bis 6.000 Klageverfahren vermeidbar gewesen“, urteilt er.

Jan Keppler ist nicht im Streit gegangen, er verdankt dem Jobcenter sogar einiges. Die Behörde hatte ihn mit befristeten Verträgen abgefertigt. Nach zwei Jahren habe er eine dauerhafte Anstellung verlangt und angekündigt, er werde sonst seine eigene Kanzlei eröffnen, berichtet Keppler. Doch Ingrid Richter habe ihm mitgeteilt, die Personalpolitik der Zentrale erlaube nur befristete Stellen.

Inzwischen dürfte Keppler weit besser verdienen als seine früheren Kollegen oder die Sozialrichter. Einen Posten müsse sie ihm nicht mehr anbieten, sagt seine frühere Chefin. Dieser Anwalt sei längst unbezahlbar.