: Willkommen in der Wirklichkeit
KRISE I Vor der Saison peilte der HSV einen Europapokal-Platz an, nach der Hinrunde findet er sich zwei Punkte vor der Abstiegszone wieder. Vor allem taktische Disziplin und Siegeswillen fehlen den Hamburgern
BERT VAN MARWIJK, HSV-TRAINER, KONNTE SEINEM TEAM DIESE ERKENNTNIS OFFENBAR NICHT VERMITTELN
AUS HAMBURG HENDRIK BUCHHEISTER
Es war schon kurz nach neunzehn Uhr, die meisten Zuschauer hatten den Ort der Niederlage längst verlassen. Der Boden vor der Nordtribüne des Hamburger Bundesliga-Stadion war mit leeren Plastikbechern und weggeworfenen Bratwurstpappen übersät. Nur ein paar wenige Menschen hielten sich noch in dieser tristen Umgebung auf, vereinzelt zogen kleine Gruppen von Fans des Hamburger SV vorbei. Drei junge Männer sangen mit Blick auf den in der Zweiten Bundesliga spielenden Stadtrivalen: „Die Nummer eins der Stadt werdet ihr nie. Scheiß St. Pauli.“ Was man eben so tut, um Trost zu finden und sich vom Scheitern des eigenen Teams abzulenken.
2:3 hatte der HSV das letzte Spiel des Jahres gegen Mainz 05 verloren, und das völlig zu Recht. Hamburgs Trainer Bert van Marwijk nannte den Sieg der Gäste „hochverdient“, und sein Mainzer Kollege Thomas Tuchel stellte vergnügt fest, dass sein Team „zwei gute Halbzeiten gespielt“ habe.
So war es erstaunlich genug, dass der HSV vor der Pause in Führung gegangen war (Hakan Calhanoglu, 21. Minute). Nach dem Wechsel nutzten Shinji Okazaki (47.) und Nicolai Müller (50.) die Lücken in der Hamburger Deckung, die so gewaltig waren, dass ein Kreuzfahrtschiff problemlos hätte hindurchfahren können. Der HSV schöpfte nach Rafael van der Vaarts Ausgleich (79.) Mut, verlor aber erst einen Spieler – Tomás Rincón sah in der 82. Minute Gelb-Rot – und dann das Spiel. Okazaki gelang in der Nachspielzeit sein zweiter Treffer an diesem Nachmittag.
Van Marwijk klagt seit seinem Amtsantritt im September über mangelnde taktische Disziplin, insofern sah er sich beim entscheidenden Gegentor bestätigt. „Es steht 2:2 und wir sind in Unterzahl. Da muss man dann sagen: Jetzt ist Schluss. Da muss man dann lieber alle Bälle aus dem Stadion schießen“, sagte der Hamburger Trainer. Doch diese Aufgabe misslang dem HSV – wie schon so viele Aufgaben in dieser Saison.
Neun Niederlagen hat die Mannschaft in der Hinrunde kassiert, mehr als der Tabellen-Vorletzte Nürnberg. Zusammen mit Hoffenheim haben die Hamburger die meisten Tore kassiert. Nur zwei Punkte beträgt der Vorsprung auf Relegationsplatz 16. Der vor der Saison mit viel Überzeugung propagierte Angriff auf die internationalen Ränge muss spätestens zur Winterpause als abgesagt gelten. Das Hamburger Anspruchsdenken hat sich erneut als unrealistisch erwiesen.
Stattdessen gehen die Profis des HSV und auch ihr Trainer mit der Gewissheit in die Weihnachtsferien, sich im Abstiegskampf zu befinden. „Ja, natürlich. Das ist Realität“, entgegnete van Marwijk auf die entsprechende Nachfrage. Er ist bislang nicht durch die Verklärung der Hamburger Verhältnisse aufgefallen, sondern sieht die Dinge sachlich.
Anders als zum Beispiel Sportchef Oliver Kreuzer, der Anfang November verkündete, der HSV werde sich bis zum Jahresende keine Heimniederlage mehr erlauben. Darauf folgten noch Niederlagen gegen Augsburg und nun gegen Mainz. Insgesamt haben die Hamburger zum Hinrunden-Abschluss drei Spiele nacheinander verloren.
Van Marwijk macht sich keine Illusionen über die Möglichkeiten seiner Mannschaft. „Bei uns muss alles stimmen. Dann können wir ein Niveau erreichen, dass wir keine Angst haben müssen“ – gesichertes Tabellenmittelfeld würde das wohl bedeuten, mehr nicht. Doch im Moment stimmt wenig bis gar nichts beim HSV: Gegen Mainz musste man schon sehr genau hinschauen, um bei den Hamburgern so etwas wie Siegeswillen zu erkennen. Die Abwehr ist anfällig, macht viele individuelle Fehler. Kapitän Rafael van der Vaart vermag es nur selten, die Mannschaft mitzureißen. Dazu hat das Team Verletzungssorgen in der Defensive.
„Ich werde keine schönen Weihnachten mehr haben“, klagte van Marwijk. Vielen HSV-Fans wird es wohl genau so gehen