: „Berlin ist in Wirklichkeit kleiner als in meiner Vorstellung“
24 Heute endet der Advent – und auch der taz-Adventskalender ist komplett. Der Fotograf Fred Hüning hat für uns Berlin entlang der B 1 von West nach Ost durchquert und ein Dezember-Kaleidoskop der Stadt geschaffen. Wie es ihm dabei ergangen ist, erzählt er im Interview
■ 47, arbeitet seit 2007 als freier künstlerischer Fotograf. Er hat an der Ostkreuzschule für Fotografie und Gestaltung bei Ute Mahler studiert und lebt in Berlin. Bei dem Fotobuchverlag Peperoni Books wurden vier seiner Bücher veröffentlicht, zuletzt „one circle“. Zurzeit ist er an der Ausstellung „Home Truths – Photography, Motherhood and Identity“ in der Londoner Photographers’ Gallery beteiligt (noch bis 5. Januar). Die Ausstellung wandert im April 2014 ins MoCP in Chicago.
INTERVIEW BERT SCHULZ
taz: Herr Hüning, wie ist es gelaufen?
Fred Hüning: Gut. Ich hatte mir extra warme Schuhe zugelegt. Aber die habe ich gar nicht gebraucht.
Haben die Leute Sie angesprochen auf der Straße?
Nein. Natürlich habe ich die Menschen angesprochen – was mir sonst eigentlich gar nicht liegt. Aber ich wurde durch das Konzept ja regelrecht dazu gezwungen, und es hat mir dann auch richtig Spaß gemacht. Ich fand es überraschend, wie viele Leute einverstanden waren, sich einfach so fotografieren zu lassen. Ich selbst würde mich nur ungern fotografieren lassen.
Haben Sie jeden angequatscht, der Ihnen über den Weg lief?
Eigentlich sieht man auf der B 1 nur Menschen in Autos. Und gerade am Anfang, auf der Strecke durch den Düppeler Forst, bin ich kilometerlang kaum jemandem begegnet. Später kam ich an auffälligeren Orten vorbei. Über sie habe ich erst recherchiert, dann habe ich Menschen dort danach gefragt. Manchmal war es aber purer Zufall: etwa die Geschichte mit David Bowie.
Das Foto mit der Buchhändlerin.
Da habe ich einfach an der bekannten damaligen Adresse von Bowie in der Hauptstraße 155 in Schöneberg Station gemacht. Meine Idee war, Touristen vor dem Haus in der „Heroes“-Plattencover-Pose zu fotografieren. Leider waren keine Touristen da. Aber nebenan gibt es die „Bücherhalle“: Und die Mitinhaberin hat sich sehr gefreut über meinen Vorschlag.
Haben die Menschen verstanden, was Sie von ihnen wollten?
Das haben die meisten gar nicht hinterfragt. Ich musste oft gar nichts erklären. Das hat mich auch gewundert.
Wie sind Ihre Texte entstanden?
Auch im Laufen. Ich bin die meisten Strecken mehrfach abgegangen, hin und zurück. Dabei sind mir die Ideen für die Bilder und die Texte dazu gekommen. Die sind nicht so spontan, wie es vielleicht wirkt. Ich feile lange daran, und dann kürze ich sie von zehn auf drei Sätze.
Hat sich Ihre Wahrnehmung der Stadt durch die Wanderung verändert?
Ich kenne die Stadt schon verdammt gut, und ich bin viel zu Fuß unterwegs. Aber beispielsweise die Strecke zum Wannsee fährt man doch meist mit der S-Bahn – und zu Fuß, muss ich sagen, nimmt man die Umgebung einfach ganz anders wahr.
Inwiefern?
Die Stadt ist in Wirklichkeit kleiner als in meiner Vorstellung. Die B 1 durch die Stadt von der Glienicker Brücke bis nach Alt-Mahlsdorf: das sind keine 50 Kilometer. Und das ist tatsächlich nicht viel.
Würden Sie Berlin aus der Perspektive des Fotografen als schöne Stadt bezeichnen?
Sie ist sicher fotogen. Wenn man durch die Straßen geht, findet man jede Menge Motive. Schöne Bilder zu machen in Berlin – das ist schon fast zu einfach. Die Texte waren schwerer.
Ist die Auswahl der Adventskalenderbilder in irgendeiner Weise repräsentativ?
Nein. Es sind 21 Momente. Jeder andere Fotograf hätte völlig andere Bilder gefunden. Natürlich ist das keine Essenz der Stadt. Aber es ist mein Kaleidoskop von Berlin im Dezember 2013. Jeder hat ja sein ganz eigenes Bild von Berlin, jeder verbindet mit den Orten irgendetwas anderes, meist auch ganz persönliche Geschichten.
Gab es neben der Kamera noch ein Utensil, das für diese Tour unverzichtbar war?
Nur Zettel und Stift. Die habe ich aber leider oft vergessen. Da musste ich mir die Geschichten halt merken. Verirren konnte ich mich auch nicht: Die B 1 ist immer ausgeschildert. Ich brauchte also kein GPS.
Gibt es noch einen Unterschied zwischen Ost und West?
Ausgerechnet am grauesten Tag dieses Jahres war ich in Lichtenberg unterwegs. Das war schon ein Schock. Direkt hinter dem Frankfurter Tor geht die Tristesse los: Da stehen ganze Häuserblocks leer. Und die Geschichte des Ortes färbt auch auf die Menschen ab: die ehemalige Stasizentrale, ein ehemaliger Folterknast des sowjetischen Geheimdienstes, der jetzt ein Frauengefängnis ist, und dann noch zwei Jobcenter. Der einzige Erholungsort ist ein Bräunungsstudio namens „Sonnensupermarkt Gigasun“.
Das klingt jetzt weniger nach Ost und West – sondern mehr nach einer Kiezbesonderheit.
Na ja, die Geschichte dieses Ortes ist schon ganz eng mit der DDR verknüpft. Generell gilt aber für jede Großstadt: An den Rändern beginnt die Tristesse.