: Die prekäre Urlaubsfrage
Na, wohin geht’s in diesem Jahr? Die Frage nach der sommerlichen Reiseplanung lenkt den Blick auf eine ökonomisch-soziale Spaltung, vor allem in der Generation der 30- bis 40-jährigen Akademiker
VON CHRISTIAN KORTMANN
Trotz E-Mail: Die wirklich wichtigen Nachrichten, also die, die das Leben verändern oder Eindrücke vom wahren Wesen der Welt vermitteln, findet man immer noch im Briefkasten. So trudeln sie jetzt wieder ein, zunächst sporadisch, ihren Rhythmus bis zum Hochsommer steigernd – Bildpostkarten aus der weiten Welt der Urlaubsreisen, bedruckt mit Motiven von hellen Sandstränden, türkisfarbenem Meer und Sex-on-the-beach-Sonnenuntergängen.
Manch einer, der solche Postkarten von Freunden erhält, ist selbst schon lange nicht mehr verreist, und seine Freude darüber, Post vom anderen Ende der Welt im Briefkasten zu haben, löst zugleich grundsätzliche Reflexionen über Lebensstile aus. Denn jeder 30- bis 40-Jährige kann heute seinen Freundes- und Bekanntenkreis in fleißige Urlaubsmacher und Urlaubsabstinentler einteilen. Die Gründe hierfür liegen weniger in Reisefreude oder -phobie als im individuellen Ausmaß des pekuniären Spielraums: Denn fast jeder verreist gerne; wer es nicht tut, demonstriert nur in den seltensten Fällen seine Unabkömmlichkeit, sondern meist, dass er nicht flüssig ist. So leicht es fällt, im Alltag mit sauberem Hemd und gebügeltem Anzug auch als Geringverdiener eine vornehme Figur zu machen (Karl Lagerfeld verwies darauf, dass durch H&M die Kleidung ihre Funktion als Statussymbol verloren hat), so wenig lässt sich bei der Urlaubsfrage die Realität kaschieren.
Auch im engsten Freundeskreis kommen hier die Karten mit unangenehmer Direktheit auf den Tisch. Wer auf die Frage, wohin er im Sommer verreist, antwortet, dass er überhaupt nicht urlauben wird, gesteht offen ein, sich nicht das Gleiche wie der andere leisten zu können. Die in der Urlaubsfrage zum Ausdruck kommende Polarität erschreckt, weil sie eine Spaltung innerhalb einer Gruppe verdeutlicht, von der man dachte, sie würde homogen bleiben, weil sie einst homogen war.
Man kann in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen noch so viel über die kontinuierlich weiter auseinander klaffende Einkommensschere lesen – es bleibt abstrakt. Welch handfeste Auswirkungen es auf die soziale Praxis hat, versteht erst, wer zum Beispiel eine Einladung zu einer Feier erhält, die ein Schulfreund am Mittelmeer steigen lässt, und sie wegen der Reisekosten ausschlagen muss. Da passiert etwas in der Generation der 30- bis 40-Jährigen, was man in den 70er- und 80er-Jahren niemals für möglich gehalten hätte, als man im Grunde egalitär zusammen aufwuchs und die Familienfinanzen keine Rolle spielten. Zwar hatte das eine Kind ein teures Fahrrad und das andere nur ein billiges, doch man radelte gemeinsam durch die Gegend. Zwar ging es manchen Mittelschichtseltern besser als anderen, fast allen aber gut genug. Während des Studiums in den 90er-Jahren zeichneten sich erste Hinweise auf eine Ökonomisierung des Soziallebens ab. Die einen wohnten in WGs, die anderen bezogen schicke Singlewohnungen, manche feierten Partys, bei denen das Bier rasch alle war, und manche wurden Stammgäste in Clubs, in denen man Wodka und Champagner flaschenweise an den Tisch bestellte. Doch der universitäre Low-Budget-Schick bot einen Rahmen, in dem jeder materielle Exzess lächerlich wirkte und unterschiedlich dicke Portemonnaies noch keine Trennung der Erlebniswelten bewirkten.
Generation 1.000 Euro
Ins Berufsleben eingetreten, stehen sich jetzt auf einmal, vereinfacht gesagt, Neobourgeoisie und oftmals unfreiwillige Boheme gegenüber, zwei Gruppen, die sich gut durch ihr Urlaubsverhalten charakterisieren lassen. Die einen verreisen mehrmals jährlich, quer durch die Weltgeschichte, gerne auch wie die Elterngeneration in die Toskana, weite Flugreisen sind selbstverständlich. Auf der anderen Seite gibt es die, die schon seit Jahren keine Urlaubsreise mehr gemacht haben, ja, in deren Denken das Konzept „Urlaub“ gar nicht mehr vorkommt, weil ihre Existenz eine Art Dauersurvivalcamp darstellt und sie schon froh sind, wenn sie ihre Miete bezahlen können.
In Italien ist gerade ein Roman erschienen, der dieses Milieu, auf das Monatseinkommen bezogen, treffend als „Generazione 1000 Euro“ beschreibt. Den Autoren Antonio Incorvaia und Alessandro Rimassa geht es um die Nöte und Hoffnungen der Freiberufler und Angestellten, „die trotz ihres geringen Einkommens immer noch an eine bessere und weniger unsichere Zukunft glauben“. Bisher ist das Buch nur in Italien erhältlich, doch die englischsprachige Version der Website www.generazione1000.com bündelt die Internationale der „Milleuristi“ oder „G 1000“, die in Frankreich auch „Précariat“ und in Deutschland „Generation Praktikum“ genannt wurden.
So ist man als 30- bis 40-Jähriger zum Vertreter eines Lebensentwurfs geworden, den man nie bewusst entworfen hat. Denn oft ist die Zugehörigkeit zu einer der beiden Gruppen schlicht Folge von Glück oder Pech, etwa bei der Wahl des Studienplatzes. Klar, Unterschiede gab es schon immer, und das ist ja auch gut so, zum Problem werden sie aber, wenn es dazwischen kaum Brücken der Kommunikation gibt. So ist einem jungen Informatiker die Lage eines jungen Geisteswissenschaftlers kaum zu vermitteln, da er sich auf einem völlig anderen Lohnniveau bewegt, und die besagten 1.000 Euro, um die viele Berufsanfänger heute kämpfen, um in einer Großstadt zu überleben, für ihn ungefähr der Betrag ist, den er monatlich für Extravaganzen übrig hat.
Charakterlich sind sich der Computer-Nerd und der promovierte Bücherwurm oft nicht unähnlich, Ersterer hat halt Glück gehabt, dass sein Können zurzeit gefragt ist. Doch ab einem gewissen Einkommensunterschied wird die dickste, auf Sympathie beruhende Freundschaft auf die Probe gestellt. Der Ärmere hat seinen Stolz und fühlt sich vielleicht gedemütigt, weil er beim gemeinsamen Restaurantbesuch immer das Billigste bestellen muss. Und der Reichere will sich die legitime Lust am Verprassen des Verdienten nicht durch ein schlechtes Gewissen verderben lassen.
Auch alte Freundschaften wirken durch die ökonomische Differenz oft wie gelähmt, weil der gemeinsame Erfahrungsraum kleiner wird. Obwohl man alten Freunden menschlich noch sehr nah ist und ihren Charakter aus gemeinsamen Jugenderlebnissen bestens kennt, gelingt es nicht mehr, eine gemeinsame Erlebnisebene in der Gegenwart herzustellen, weil der Rahmen, in dem man sein Leben an die finanziellen Notwendigkeiten anpasst, zu verschieden ist. Meist zieht sich der Finanzschwächere zurück. Einerseits will nicht geizig erscheinen, wer Geiz von jeher verachtet. Andererseits merkt jeder, der mit wenig Geld auskommen muss, wie sehr man sich durch mangelnde Kaufkraft ausgrenzt.
Status und Balkonien
Denn auch in den sich intellektuell gebenden, besser verdienenden Schichten ist der materielle Konsum wichtiger Bestandteil des Commonsense und der alltäglichen Kommunikation. Man hat studiert, hält sich eine überregionale Tageszeitung, guckt mit Vorliebe Arte und ist vielleicht zu klug, um bei Media Markt oder bei Lebensmitteldiscountern einzukaufen, aber von teuren Lifestyle-Produkten mit vermeintlich kulturellem Anspruch, etwa Apple-Schnickschnack, ist man fasziniert und stellt ihren Mehrwert nicht in Frage. Und der „Urlaub auf Balkonien“ ist hier ein wahres Schreckensszenario, auch weil vor- und nachher nicht statusorientiert darüber kommuniziert werden kann.
Wer in dieser schön geredeten Konsumschlacht nicht mitmacht, entscheidet sich trotzig für einen asketischen Lebensstil und verachtet die Statussymbole der Gutverdiener, also die Erlebnisse wie das Interieur ihrer Welt. Sie kaufen sich Bücher wie „Simplify your life“, in denen steht, was sie aus ihrer Wohnung werfen sollen, man selbst hat nie etwas besessen und es sowieso stets mit Jerome K. Jerome gehalten: „Dein Lebensboot sei leicht!“
Nun gut, auch mit geringen Mitteln lassen sich originelle kleine Urlaube und Alltagsfluchten organisieren, wenngleich man sich dann vielleicht von Hardcore-Fernfliegern bescheinigen lassen muss, dass eine mehrtägige Radtour gar kein „Urlaub“ sei, sondern allenfalls ein „Wochenendausflug“. So richtet man sich in einem Zustand ein, in dem man sich arm und reich zugleich fühlen darf. Man hat zwar kein Geld, hat sich aber auch von den Zwängen befreit, etwas besitzen zu müssen.
In der Neobourgeoisie macht man sich mit solch ketzerischer Haltung keine Freunde; den besten Draht behält man zu jenen, denen es ähnlich geht. In diesem Spannungsfeld der sozial sich manifestierenden ökonomischen Disparitäten macht die Generation der 30- bis 40-Jährigen die für sie neue Erfahrung, dass es verdammt schwierig ist, über Einkommensunterschiede hinweg befreundet zu sein. „Unter dem Pflaster ist der Strand“: Der 68er-Slogan wird in der Urlaubsfrage wieder aktuell. Denn wer immer heute von Integration redet, sollte bedenken, dass hier ein nachhaltiger Desintegrationsprozess via Portemonnaie mitten in der Gesellschaft wütet.