So allein bin ich gar nicht

MITLEID ALLERORTEN

Etwas mitleidig guckt er mich an, der Spätibesitzer in Friedrichshain. Ich kaufe eine Flasche Wodka, genau wie letztes Jahr. Das riecht natürlich nach ganz gewaltigem Weihnachtsblues, danach, weinend Dominosteine in sich reinzustopfen und von „Michel aus Lönneberga“ über „Sister Act 2“ zu „Disney’s Christmas Story“ zu zappen.

Die Straßen sind menschenleer, selbst die Rigaer, wo man nun wirklich weder Zugezogene noch übertrieben besinnliche Menschen erwartet hätte. Aber wenn ich gleich in die nächste Querstraße einbiege, werde ich schon den Trubel aus der vierten Etage hören. Hier in der Enklave Liebigstraße versammelt sich alles aus meinem Freundeskreis, was aus religiösen, familiären oder herkunftstechnischen Gründen mit Weihnachten soviel zu tun hat wie der Osterhase mit Chanukka. Und es werden jedes Jahr mehr.

Unsere Partyhymne stammt von Sarah Silverman, singt sie doch in „Give the Jew Girl Toys“ so treffend: „I hate to say this Santa, but you’re acting like a dick / you should give presents to everyone that’s good and not just to your personal clique.“

Selbstverständlich gibt es auch bei uns weiße Hemdkragen und Tischdecken, ein Sechsgängemenü und feierliche Stimmung. Da man sich Freunde allerdings aussuchen kann und Familie meist nicht (irgendwo versteckt sich doch immer eine ungeliebte Tante, die zu Heiligabend Ärger macht), läuft das Ganze ziemlich harmonisch ab. Das mag auch an dem vielen Wodka liegen.

Wenn wir dann anschließend, wie seit über zehn Jahren, ins Taxi springen, um ins Bassy zu fahren, wo jedes Weihnachten die „Swinging 60’s“ Party stattfindet und man all die Leute trifft, die man ein Jahr lang nicht gesehen hat, muss man sich das Gemecker über die Weinachtsfeiern anhören. Der ein oder andere hat zwar ein paar neue Socken oder ein iPad abgesahnt, aber die meisten sind doch froh, endlich saufen zu können.

Ich bezahl den Wodka und will den Späti verlassen, doch der Blick des Verkäufers wurmt mich. Er guckt mich immer noch an, als sähe er gerade einen Käfig mit kleinen Katzen in einem Tierversuchslabor. Er scheint nicht zu realisieren, dass er in einer leeren Straße, in einem wenig frequentierten Geschäft sitzt, und ich will ihm auch die Illusion nicht nehmen, dass es jemanden gibt, der ärmer dran ist als er. Also gehe ich schweigend hinaus.

In diesem Sinne: Prost! JURI STERNBURG