Raum für Einsteiger

AUFSCHWUNG Eine Region in Vorpommern entwickelt sich zu einem Erfolgsmodell für regionale Wertschöpfung und Netzwerkbildung. Dabei galt sie lange als „letztes Loch vor der Hölle“

VON FLORIAN ZIMMER-AMRHEIN

Auf den ersten Blick ist in Lassan rein gar nichts los. Kommt man zu dieser Jahreszeit in die kleine Stadt im nordöstlichen Mecklenburg-Vorpommern, ist man zuweilen der einzige Tourist im Ort.

Lassan liegt am Ufer des Peenestroms, direkt gegenüber der Insel Usedom. Von den knapp eine Million Ostseeurlaubern, die jährlich nach Usedom pilgern, verirren sich aber nur wenige nach Lassan. Die Gemeinde umfasst neben der bald 740 Jahre alten Kleinstadt die umliegenden Dörfer Pulow, Papendorf, Klein Jasedow und Waschow.

Endlose Äcker und kleine Seen prägen die Landschaft. Nach der Wende herrschten hier zwischenzeitlich rund 70 Prozent Arbeitslosigkeit. Die jungen Leute zogen scharenweise fort, die Bevölkerung dezimierte sich innerhalb weniger Jahre um die Hälfte. Die Gegend war lange als „letztes Loch vor der Hölle“ verschrien.

Seit der Jahrtausendwende zeichnet sich jedoch eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte im Lassaner Winkel ab. Nachhaltig wirtschaftende Unternehmen siedeln sich an und schaffen Arbeitsplätze. Ein Tourismus-Netzwerk ist entstanden. Vielerorts wird gebaut und renoviert.

Diese Erfolgsgeschichte wäre wohl nicht ohne Matthias Andiel möglich gewesen. Andiel kam bereits 1982 als junger Mann in den Lassaner Winkel und gründete im halb verfallenen Pulower Gutshof die erste alternative Wohngemeinschaft des Ortes. Andiel trägt seine langen grauen Haare in einem dicken Pferdeschwanz gebunden. Er ist zweifellos jemand, der in der mecklenburgischen Provinz schon immer aufgefallen ist. Ein unangepasster Künstlertyp, der obendrein einen breiten vogtländischen Dialekt spricht.

Von 1989 bis 2004 war Andiel Bürgermeister von Pulow und brachte in dieser Zeit viele Strukturprojekte auf den Weg. Er brachte Pulow und Lassan in die staatlichen Programme zur Dorferneuerung und Städtebauförderung. Zusammen mit engagierten MitbürgerInnen wurde ein Kultur- und Naturschutzverein gegründet und eine Textilwerkstatt aufgebaut. Auch die Touristenattraktion „Duft- und Tastgarten“ in Papendorf entstand in dieser Zeit. Andiel schaffte es zudem, überregionale Medien wie den Spiegel auf die Missstände vor Ort aufmerksam zu machen. So erfuhr auch Johannes Heimrath vom Lassaner Winkel.

Johannes Heimrath, Jahrgang 1953, steht noch jetzt im Dezember barfuß auf der Straße in Klein Jasedow und winkt. Genauso wie Andiel trägt er seine Haare in einem langen Pferdeschwanz. Heimrath lebt seit 1997 in Klein Jasedow – gemeinsam mit seiner „Lebensgemeinschaft Klein Jasedow“, einem Verbund von 16 Musikern und Kreativen, die unter einem Dach leben und wirtschaften. Obwohl die Gruppe offen ist für Esoterisch-Spirituelles, ist sie alles andere als eine Sekte, für die manche Einheimische sie anfangs hielten. Sie wollen niemanden bekehren, sind aber mit dem Vorsatz nach Klein Jasedow gezogen, ein besseres Leben für sich und die gesamte Region aufzubauen. „Wir sind keine Aussteiger, wir steigen in etwas ein“, macht Heimrath deutlich: „Wir wollen die heutige Gesellschaft verstehen und aktiv mitgestalten.“

Dieses Vorhaben setzen Heimrath und Co. mit erstaunlicher Effizienz und unternehmerischer Spitzfindigkeit um. Die Gruppe hat in Klein Jasedow ein Unternehmensnetzwerk praktisch aus dem Boden gestampft. Dazu gehört eine Medienproduktionsfirma, ein Verlag, eine Bildungs- und Kulturakademie (www.eaha.org) und eine Instrumentenwerkstatt. „Wir haben über 40 neue Arbeitsplätze geschaffen“, sagt Heimrath und weist einschränkend darauf hin: „Die Gehälter hier in der Region sind nach wie vor Hungerlöhne. Wir schaffen es immerhin, überall die Mindestlöhne zu bezahlen.“

Klein Jasedow, Ende der Neunziger ein Dorf vor dem Aus, ist heute nicht mehr wiederzuerkennen. Die Bevölkerung hat sich durch die Neuankömmlinge mehr als verdoppelt. Neue Gebäude sind entstanden, alte Bauten wurden saniert und umfunktioniert. Am Eingang des Dorfes wurde ein „Begegnungshaus“ gebaut, in dem junge und alte Menschen gemeinschaftlich wohnen können – in behindertengerechten Erdgeschosswohnungen die Alten, im Stock darüber die Jungen. Der größte Stolz der Klein Jasedower ist ein sich energetisch selbst erhaltendes Tagungs- und Konzerthaus. Hier werden Konzerte, Workshops und Fortbildungen abgehalten, die Menschen aus der ganzen Bundesrepublik anlocken. Und auch der „Holunderblütenmarkt“ im Juni, den die Klein Jasedower ins Leben gerufen haben, hat sich zu einem echten Publikumsmagneten entwickelt.

Trotz allem bleibt man in Klein Jasedow bescheiden. „Wir selber haben unser Leben so eingerichtet, dass wir nur wenig Geld benötigen. Wir ernähren uns zu großen Teilen von unserem eigenen Garten und unseren eigenen Tieren“, sagt Heimrath. Die gegründeten Firmen, Genossenschaften und Vereine sollen vornehmlich dem Gemeinwohl dienen. Der erwirtschaftete Profit fließt zum Großteil in gemeinnützige Projekte. Im Grunde geht es in Klein Jasedow, wenn man Heimrath so reden hört, um eine anthroposophische Vision: weg von einer globalen kapitalistischen Geldwirtschaft hin zu einer regional organisierten Tausch- und Schenkökonomie.

Die stillgelegte Schweinemastanlage in Pulow ist noch so ein Ort, der sukszessiv neu erschlossen wird. Seit 2004 haben sich gleich drei Unternehmen erfolgreich auf dem alten Gewerbehof angesiedelt, darunter die Teemanufaktur „Kräutergarten Pommerland“ – ein genossenschaftlich organisierter Biobetrieb, der unmittelbar aus den Initiativen von Matthias Andiel hervorgegangen ist. Was als kleine ABM-Maßnahme seinen Anfang nahm, hat sich zu einem aufstrebenden Unternehmen mit breiter Produktpalette entwickelt. Rund 20 Teesorten werden hier vor Ort getrocknet, gemischt und abgepackt. Im Verbund mit einer Lassaner Mosterei werden Kräutersirups hergestellt und vertrieben. Die Belegschaft besteht fast ausschließlich aus Frauen aus Pulow und den umliegenden Dörfern.

Dieses Jahr hat der Betrieb rund 190.000 Packungen Tee verkauft. „Unsere Produkte sind mittlerweile auch in jedem gut sortierten Bioladen in Berlin erhältlich“, sagt Geschäftsführerin Christiane Wilkening. Das Unternehmen hat auf Solarstrom umgestellt, soll weiter wachsen und sucht nun dringend neue Genossenschaftsmitglieder.

Zum Mitmachen wollen auch die Organisatoren des Tourismus-Netzwerkes „Kräuter, Kunst und Himmelsaugen“ animieren. Das Netzwerk ist eine Kooperation zahlreicher Kulturvereine, Handwerksbetriebe, Bauernhöfe, Gaststätten, Kunstgalerien, therapeutischer Praxen, Kirchen und Museen. Das gemeinsam erarbeitete Veranstaltungsprogramm soll den Lassaner Winkel über das ganze Jahr hinweg als Urlaubsziel attraktiv machen – besonders für Familien. Eine geführte Wildkräuterwanderung, musikalische und kunsthandwerkliche Workshops oder Ponyreiten gehören zum Angebot.

Langfristig soll der Lassaner Winkel ein Paradies für Radfahrer und Landurlauber werden. Im kommenden Jahr soll dann auch endlich eine Fähre Lassan anlaufen und Touristen von Usedom herüberbringen. Bis dahin will man bereit sein und den Besuchern eine echte Alternative zum Usedomer Massentourismus bieten.

Websites: www.lassan.eu www.campingplatz-lassan.de www.paradiesgarten-lassaner-winkel.de, mirabelleev.de zukunftswerk-kleinjasedow.de kraeutergarten-pommerland.de www.ackerbuergerei.de Im Aufbau: lassaner-winkel.de