: Hier spricht das Kollektiv
THEATER EUROPA Marktplatz für Autoren, Erfahrungsraum für alle: 24 Inszenierungen hat die Theaterbiennale „Neue Stücke aus Europa“ dieses Jahr nach Wiesbaden und Mainz eingeladen. Das Festival präsentiert sich mit ihnen als Atlas der Theaterformen
VON BARBARA BEHRENDT
Hätte die Simultanübersetzung am Eröffnungsabend versagt, die kraftvollsten Augenblicke des italienischen Gastspiels wären einem dennoch nicht entgangen. Das beeindruckende Procedere etwa, bei dem die Transvestiten mit einem Automatismus die Schminke auflegen, als seien sie affektgesteuerte Hühner, die nach Körnern picken, ist ganz ohne Text verständlich. Oder die drei Feen, die den „Nutten“ (so der Stücktitel) zum Happy End verhelfen sollen: Als wären sie eben noch Porzellanfigur auf einer Spieluhr gewesen, bewegen sie mechanisch, unter konzentriertem Körpereinsatz, ihre Glieder. Welcher Wert wird einer Nutte schon zuerkannt? Nicht mehr, als einer der Gummipuppen aus dem Sexshop, die am Ende schlaff auf der Bühne liegen.
An diesem berauschenden Bildertheater, mit dem die sizilianische Autorin, Regisseurin und Schauspielerin Emma Dante gastierte, offenbart sich der schmale Grat, auf dem das wohl größte europäische Autorenfestival „Neue Stücke aus Europa“ in Wiesbaden und Mainz balanciert. Denn der Text über das Leben süditalienischer Transvestiten und Transsexueller steht deutlich hinter dem zurück, was Emma Dante ästhetisch auf die Bühne bringt. Aber, so sagt der Autor Edoardo Erba, der als Länder-Pate Stücke aus Italien vorschlägt, „diese Ästhetik der Bilder ist eine aktuelle Entwicklung des italienischen Theaters“.
Diese Einladung zeigt, dass die Festivalleitung keine dogmatische Stückedefinition vertritt – es kommt ihr nicht nur auf Texte, sondern auch auf deren ästhetisch stimmige Realisierung an. Dazu können bestimmte Arbeitsformen beitragen. „Man kann zu einer höheren Qualität der Inszenierung kommen, wenn eine Arbeit im Kollektiv entsteht“, meint Yvonne Büdenhölzer, die mit dem Festivalgründer Manfred Beilharz, dem Autor Tankred Dorst und dessen Frau Ursula Ehler die Biennale leitet.
Was ist das im heutigen Theater – ein Stück? Diese Frage war bei den Mülheimer Theatertagen vor drei Jahren, als dort die Dokumentartheatergruppe „Rimini Protokoll“ den Dramatikerpreis mit „Karl Marx: Das Kapital, Erster Band“ gewann, heftig debattiert worden. Denn der Stücktext war aus den Erzählungen und Biografien der unterschiedlichen Alltagsexperten entstanden, die ihr Wissen zu Marx zusammentrugen. Auch bei der Biennale stellt sich das Problem, denn fast die Hälfte der Inszenierungen sind eher Kollektivprojekte – und bei ihnen hat sich die Rolle des Autors stark verändert. „Öffnet die Proben, integriert die Autoren, belebt eure Häuser“: so der Appell des Jungdramatikers Nis-Momme Stockmann an die Theater.
Land voller Idioten
Nach dieser Devise ist „Rumänien! Küss mich“ von Bogdan Georgescu entstanden. Mit Regisseur David Schwartz und den Schauspielern baute der Autor sein Minidrama zum Stück aus – ein selbstironisches Porträt dreier Rumänen, die dieses „Land voller Idioten“ verlassen wollen und sich im Zugabteil gegenseitig von ihrer Unausstehlichkeit überzeugen. Ein fünfköpfiges Orchester liefert mit Schöpfkellen und Kuchenformen, mit Raumspray und Zwiebeln die Klang- und Geruchkulisse des Spektakels. Im Mainzer Theater lachen die Zuschauer bedenkenlos, in Rumänien tat man sich schwerer: „Sie sagten: tolles Stück! Aber mit uns hat das nichts zu tun“, amüsiert sich der 25-jährige Autor auch über sich selbst beim Publikumsgespräch, das fester Bestandteil des Festivals ist.
Bei „Marta vom blauen Hügel“ aus Lettland, geschrieben und inszeniert von Alvis Hermanis, hat hingegen das deutsche Publikum zu kämpfen. „Mir ist die lettische Seele noch fremder als zuvor“, meint danach ein Zuschauer. Hermanis lässt zwölf starke Darsteller wie beim letzten Abendmahl an einer Holztafel Platz nehmen und ruft mit Zeitzeugenberichten die Wunder der lettischen Heilerin Marta Rãcene in Erinnerung. Ironische Brechung oder naive Sehnsucht nach den Urwerten? Beim Publikumsgespräch war man sich uneins.
Was sagt ein solches Stück über das Land aus, in dem es entstand? Diese Frage stellt sich bei der Biennale immer von Neuem. „Natürlich gibt es nicht das bulgarische, russische, belgische Stück“, sagt Beilharz. Der irrigen Erwartung, mit einem einzigen Stück generelle Aussagen über die Dramatik eines Landes treffen zu können, versuchen die ambitionierten Festivalmacher mit Vor- und Nachbereitungen zu begegnen. Und dennoch: Es ist nur natürlich, dass der Zuschauer auch einen Eindruck vom aktuellen Theaterverständnis des jeweiligen Landes bekommen will. Deshalb müsste man überlegen, ob das Festival künftig nicht stärker auf Schwerpunkte statt auf Bandbreite setzen und den Fokus auf jeweils ein europäisches Gastland legen sollte.
Eine solche Akzentsetzung ginge aber womöglich zu Lasten der Autoren und der 41 auswählenden Länder-Paten: Ihnen bietet sich hier ein einzigartiger Marktplatz und Erfahrungsraum. „Für uns junge Autoren ist es das wichtigste Festival Europas. Hier zu sein, kann für jeden zum Meilenstein werden“, sagt die serbische Autorin und jetzige Länder-Patin Biljana Srbljanovic. Sie weiß, wovon sie spricht: Auch ihre Karriere hatte vor zwölf Jahren mit der Biennale begonnen.