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Archiv-Artikel

Der Ankläger dieses Sommers

VERBÄNDE Ulrich Schneider wundert sich, wie ungeschickt Schwarz-Gelb agiert. Das ist sein Vorteil. Er ist das Sprachrohr der Armen. Wenn die WM vorüber ist und das Sparpaket in den Bundestag kommt, gehen die Proteste richtig los – da ist er sich ganz sicher

Die freie Wohlfahrtspflege

■  Der „Paritätische“: Der Paritätische Wohlfahrtsverband ist der Dachverband von über 10.000 Organisationen, Einrichtungen und Gruppierungen im Sozial- und Gesundheitsbereich. Mitglieder sind u. a. der Arbeitslosenverband, die Deutsche Aidshilfe, das Studentenwerk, das Kinderhilfswerk und pro familia. Unter dem Dach des Verbandes arbeiten über 1 Million Ehrenamtliche, 545.000 Hauptamtliche und 13.500 Zivis.

■  Die anderen: Die weiteren Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege sind die Arbeiterwohlfahrt, die Caritas, das Diakonische Werk, das deutsche Rote Kreuz und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland.

AUS BERLIN STEFAN REINECKE

Es ist Montagmorgen halb elf. Dr. Ulrich Schneider eilt in die Hackeschen Höfe in Berlin-Mitte. Im dritten Stock wird der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes die Sitzung der Fachreferenten leiten. Wie jede Woche. Nun ist der Aufzug kaputt. „Früher haben uns die Zivis hochgetragen. Aber ist natürlich alles weggespart,“ sagt er und lacht glucksend. Das macht er oft. Er hat gute Laune.

Er trägt ein weißes Hemd und einen dunklen Anzug – Halbglatze, rundes Gesicht, und sein Markenzeichen: lange, breite Kotletten. Die waren in den Siebzigern mal modern. Nach zwei, drei Worten weiß man, wo er herkommt. Schneider lebt lange in Berlin, aber der Ruhrgebiets-Slang hat sich nicht abgeschliffen. Wenn er vom Fernsehen redet, in dem er oft auftrifft, sagt er „Fäärnsehn“. Irgendwie würde er auch in einem Anzug von Armani proletarisch wirken.

Am Kopfende sitzt der Chef

Der Sitzungsraum ist neonhell und riecht nach Farbe und neuem Teppich. Man bespricht eine Stunde lang, was in der Woche ansteht. Schneider sitzt am Kopfende, die Referatsleiter schauen zu ihm, wenn sie reden. Kürzlich hat der Paritätische Wohlfahrtsverband einen Bericht über die Benachteiligung von Migranten im deutschen Schulsystem vorgestellt. Schneider lobt: „Klare Position, viele Fakten, kein Gelaber.“ Er ist der Chef.

Ein neuer Mitarbeiter für die Presse wird eingestellt, allein im Mai gab es 400 Medienanfragen. Seit die Bundesregierung das Sparpaket beschlossen hat, hat Schneider 17 Interviews gegeben. Er wundert sich, wie ungeschickt sich Schwarz-Gelb anstellt. „Hätten die den Spitzensteuersatz um zwei Prozent angehoben, dann wäre Ruhe im Karton“, sagt er. Jetzt wird alles anders. Es kommt, sagt er, ein heißer Sommer. Die Demonstrationen am vorletzten Wochenende waren erst der Anfang. Wenn die WM vorbei ist und das Sparpaket in den Bundestag kommt, geht es los. Da ist er sich absolut sicher. Der Protest gegen die Agenda 2010 hat auch klein angefangen.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband selbst hat nicht zu den Demonstrationen neulich aufgerufen. „Das können wir nicht machen“, sagt Schneider. Der „Paritätische“ ist ein Dachverband von tausenden verschiedenen Organisationen: von der Schuldnerberatung bis zur Selbsthilfegruppe von Kehlkopflosen, von der Flüchtlingshilfe bis zum Weißen Ring, der sich um Kriminalitätsopfer kümmert. Der „Paritätische“ ist Lobbyist für Selbsthilfeorganisationen. Er hält Kontakte zu Ministerien und Medien – er ist eine Art Scharnier zwischen Politik und Gesellschaft. Es gibt auch Politiker, die bei ihm nachfragen, was es etwa bedeutet, wenn das Wohngeld für Hartz-IV-Empfänger pauschaliert wird, so wie es die FDP will.

Für Armut in allen Facetten ist Schneider zuständig. Er muss den richtigen Grad finden: eine klare Position beziehen, ohne sich parteipolitisch instrumentalisieren zu lassen.

Schneider ist seit 22 Jahren beim „Paritätischen“, seit elf Jahren sein Hauptgeschäftsführer. 1989 schrieb er an dem ersten Armutsbericht überhaupt mit. Nach 1990 half er die Organisation im Osten aufzubauen. Fast eine halbe Millionen ABM-Jobs gab es damals, viele in sozialen Einrichtungen. So lernte er den Verband von innen kennen. Er ist ein Vereinigungsgewinnler. Es war das erste Mal, dass er wirklich aus Oberhausen rauskam. Studiert hat er in Bonn und Münster, keine hundert Kilometer von seiner Heimatstadt entfernt.

Viel Arbeit, wenig Geld

Schneider ist ein typischer Gewinner der SPD-Bildungsreform der siebziger Jahre. Der Vater war Bierfahrer, die Mutter war Putzfrau, Ulrich, der Erste in der Familie, der Abitur machte – und auch der Erste in seiner Straße in Oberhausen-Mitte. Er engagierte sich in der katholischen Jugend, die Politgruppen waren ihm zu abgehoben. Er hatte es mehr mit dem Praktischen, „obwohl die schönsten Mädchen bei der SDAJ waren.“

Aber warum das Engagement in der Armutsfrage? Warum gerade das? Er weiß keine eindeutige Antwort. Vielleicht wegen seines Vaters, geboren 1915, Schule, Lehre, Arbeitsdienst, Wehrmacht, 1950 aus dem Osten zurückgekommen. Dann wurde er Bierfahrer, und Pförtner – wenig Schlaf, viel Arbeit, wenig Geld. Gestorben ist er mit 62 Jahren.

Schneider sitzt in einem Café am Potsdamer Platz und schaut sehr glücklich auf seinen Eisbecher. Drei Kugeln – Vanille, Nuss, Stracciatella, viel Sahne. Wir haben tolle Eisdielen in Berlin, sagt er. Und immer mehr Leute, die sich so was nicht mehr leisten können. Das sind andere Leben, als das seines Vaters. Es stimmt, sagt er, dass hierzulande niemand hungern muss und dass zum Glück auch Arme zum Arzt gehen können. Aber es gibt Kinder, die Eltern, die arbeiten gehen, nur aus der „Lindenstraße“ kennen. Und es gibt Eltern, die ihren Kindern den Fußballklub nicht mehr bezahlen können. Das muss man ändern. Indem man etwa einen Rechtsanspruch auf Teilhabe der Kinder durchsetzt, die dann eben vom Mitgliedsbeitrag für den Fußballklub befreit werden.

„Warum wollen Sie ein Porträt über mich schreiben?“ fragt er fröhlich. „Weil Sie ein wichtiger Mann werden, wenn die Sozialproteste zunehmen.“ – „Ich bin doch schon ein wichtiger Mann“, sagt er und lacht wieder glucksend. Er setzt sich gerne in Szene, steht gern im Mittelpunkt und mag ironische Aufschneiderei. Er wird oft in Talkshows eingeladen, wie Anne Will. Er ist medienkompatibel. Ein Fernsehgesicht. Jemand, der verlässlich liefert, was nachgefragt wird: soziale Anklage.

Zu Gast in den Talkshows

Schneider mag Talkshows, „weil man da vorher nicht weiß, wie es wird“. Jetzt sitzt er bei N24 am Potsdamer Platz in der Maske. In ein paar Minuten wird „Was erlauben Strunz“ aufgezeichnet, Thema: „Wie gerecht ist das Sparpaket der Bundesregierung?“ Auf dem Glastisch stehen Kaffee und Kekse. Sein Gegner ist Martin Lindner von der Berliner FDP, seit einem halben Jahr auch eine verlässliche Größe in Polittalkshows. Lindner ist beliebt bei Redakteuren, weil er immer kommt. Er hat gegelte Haare, ein zerknautschtes Gesicht und er klagt, dass der Spitzensteuersatz schon bei einem Jahreseinkommen von 53.000 Euro beginnt. Das müsse doch auch taz-Redakteure treffen, meint Lindner und erhärtet damit die Vermutung, dass die FDP ziemlich nebelhafte Vorstellungen von der bundesdeutschen Wirklichkeit hat.

In der Sendung redet Lindner lange, Moderator Strunz redet viel dazwischen, Schneider nur, wenn er gefragt wird. Er sagt nichts zu dem Regierungschaos – das ist nicht sein Job. Er kritisiert, dass Schwarz-Gelb Hartz-IV-Empfängern 300 Euro Elterngeld streichen wird. Betroffen seien ungefähr 100.000 meist alleinerziehende Mütter. „Wie kann man so etwas tun?“, fragt er. Martin Lindner verteidigt die Streichung, „systemwidrig“ sei das Elterngeld für Hartz-IV-Empfänger. Die Regierung merke gar nicht mehr, wie kalt das wirkt, sagt Schneider nach der Aufzeichnung. „Die werden das System ganz systemkonform vor die Wand fahren.“

Schneider ist mit der Sendung zufrieden. Und mit sich. Er mag solche krawalligen Talkshows, sie sind die gewaltlosen Nachfahren der Wirtshauskeilerei. Schneider wird oft als Experte interviewt. „Ohne meine Funktion wäre ich für die Medien natürlich völlig uninteressant“, sagt er. Und die wichtigste Regel ist ihm auch klar: „Wenn man es selbst nicht mehr hören kann, dann muss man es noch zwanzig Mal wiederholen, ehe das Problem ganz langsam verstanden wird.“

Ulrich Schneider ist oft im Fernsehen. Je öfter er dort zu sehen ist, desto schlechter geht es Deutschland, geht es den Armen, hierzulande.