: Rhein in Strömen
Zwischen Soap und Saga: Die ungarische Theatergruppe Krétakör nimmt mit zwei Produktionen an der Wiesbadener Theaterbiennale teil
VON KRISTIN BECKER
Mehrwertsteuer. Müttermangel. Merkel. Sie sehen jetzt schon schwarz? Dann waren Sie noch nicht in Ungarn. Dort ist die Farbe Tagesordnung, wenn man dem Krétakör-Theater glaubt, das mit seiner Produktion „Schwarzland“ jetzt auch die Wiesbadener Biennale im Triumphzug heimsuchte. Flankiert vom rosa Plüsch der Bühnenwände singen, rollen, hüpfen und schlagen sich die Akteure in der Nummernrevue durch die ungarische Gegenwart zwischen EU-Beitritt, Selbstmordrate, Kindsmissbrauch und Magyaren-Chauvinismus. Ausgangspunkt für die Schwarzmalerei bildet eine Sammlung von mobiltelefonischen Kurznachrichten, die der Regisseur Árpád Schilling zusammen mit seinem Ensemble zu einer Politsatire verarbeitet hat, die sich vor Rasanz und Musikalität fast überschlägt.
Dabei ist bereits das phonetische Markenzeichen der Gruppe eine gutturale Lautsymphonie: Kré-ta-kör. Das klingt, besonders im Ungarischen, ausgesprochen knackig. Ein Leckerbissen also, der ohne Gulaschschwere ungarische Theaterlust verspricht und doch in der Übersetzung einigen ideologischen Ballast mit sich herumträgt, denn Krétakör heißt „Kreidekreis“, und ganz ohne Brecht funktioniert diese Namensgebung auch in Ungarn nicht. Vom großen Fingerzeig der Theorie möchte man sich aber distanzieren, wie ganz besonders der deutsche Kétakör-Schauspieler Tilo Werner betont. In „Schwarzland“ deklamiert der Schaubühnen-Exilant, der seit vier Jahren in Budapest arbeitet, den ironischen Schlussmonolog zum Thema Verfremdungseffekt. Natürlich auf Deutsch, weil das Regisseur Schilling angemessener erschien.
Schilling hat das Krétakör-Theater 1995 zunächst als lose Produktionsgemeinschaft gegründet, seit sechs Jahren arbeitet das Ensemble unter seiner Leitung als feste Gruppe zusammen. Im hochsubventionierten ungarischen Staatstheatersystem ist Krétakör eine Ausnahmeerscheinung, die mit kleinem Budget das ganze Jahr lang 37 hauptamtliche Darsteller und Techniker beschäftigt. Und auch die hiesige Theaterlandschaft kennt wohl kaum eine freie Gruppe, die ohne festes Haus, aber mit Repertoire und Businessplan so beneidenswert erfolgreich arbeitet, dass Traumauslastungen jenseits der 95 Prozent die Regel sind. Dafür hat Krétakör ein eigenes Finanzierungssystem entwickelt und perfektioniert: Die Hälfte des Budgets wird durch Staatsgelder gedeckt, die allerdings jedes Jahr neu beantragt werden müssen, die andere Hälfte finanzieren Gastspiele, Koproduktionen und Kartenverkauf. So scheint die Zukunft zwar nicht sorgenfrei, aber die Lage ist stabil, zumal kein Gebäude oder Verwaltungsapparat aufs mikroökonomische Gemüt drücken.
Selbiges hat Kornél Mundruczó für das zweite Krétakör-Gastspiel bei der Wiesbadener Biennale ausführlich studiert. „Nibelungen-Wohnpark“ ist ein Stück des ungarischen Schriftstellers János Térey, das in apokalyptischen Bildern den Nibelungen-Mythos in eine spätkapitalistische, moralentleerte Rauschwelt versetzt: Siegfried und Co. als gelangweilte Spielkinder der Luxusklasse zwischen Koks, Partnertausch und Aufsichtsrat.
Mundruczó, ein Schüler István Szabós, hat sich des monumentalen Dramas, das trotz aller Auszeichnungen als unspielbar verschrien ist, mit dem Übermut eines Nicht-Theater-Regisseurs angenommen. Liebe auf den ersten Blick war es, die den einunddreißigjährigen Filmemacher zu seiner ersten Theaterinszenierung getrieben hat. Und gerne glaubt man seiner Begeisterung für die Poesie des Werks, auch wenn die deutsche Simultanübersetzung diese nicht vermittelt.
In Wiesbaden hat man Mundruczó das ehemalige Polizeipräsidium in bester Zentrumslage zum Austoben bereitgestellt. Wie eine wild gewordene Filmcrew schiebt das Ensemble das Publikum von Schauplatz zu Schauplatz. Der Rhein fließt in Strömen – vor allem als Mineralwasser in die Kehle von Roland Rábas grandiosem Hagen, dem gierig aasigen Machtmenschen, der ausgestoßen aus der Managementetage im Untergrund zum Topterroristen des „Nibelungen-Dschihad“ avanciert und seine Perfidie mit einem Anschlag auf den „Nothungtower“ krönt.
Die mehr als vierstündige Tour de Force ist ein Theatererlebnis castorfscher Ausmaße, für das der Zuschauer hart arbeiten muss: Mit den Schauspielern quetscht man sich durch die Räume, steht auf den Füßen der Nachbarn, schwitzt und friert im Kollektiv und bewundert die stoische Präsenz der Krétakör-Schauspieler. In weniger als fünf Wochen hat Mundruczó das Mammutprojekt mit dem Ensemble einstudiert oder vielmehr eingerichtet, denn wo Schilling mit „Schwarzland“ hochstilisierte Perfektion bietet, wirkt „Nibelungen Wohnpark“ unfertig und fröhlich trashverliebt. Zwischen Soap, Saga und Porno inszeniert der Regisseur die wahren Nibelungenfestspiele, bei denen die Kreidekreisler in voller Bandbreite ihre Wandlungsfähigkeit und Klasse zelebrieren: furioses ungarisches Theater, das zumindest kurzzeitig vom nationalen Schwarzsehen ablenkt.