: Bilder exquisiter Leere
Ausbruch aus Realismus und Depression: Jessica Hausners zweiter Spielfilm „Hotel“ entzieht sich den Erwartungen, die junges österreichisches Kino gemeinhin wachruft. Weder gibt es Wiener Tristesse noch fiesen Sex – dafür stilsichere Unheimlichkeit
VON CHRISTOPH HUBER
Etwas ist nicht in Ordnung: Die synthetische Liftmusik aus dem kleinen Lautsprecher, der eingangs groß die Leinwand füllt, wird von ominösen Geräuschen unterbrochen. „Hotel“, das macht dieses erste Bild klar, ist ein Film makelloser Oberflächen, die Störendes verbergen. Oder auch nicht: Die Liftmusik setzt bald wieder ein, die Dinge nehmen ihren gewohnten Gang.
Im Aufzug steht Irene (Franziska Weisz), die neue Rezeptionistin in einem österreichischen Berghotel. Sie dreht eine Runde durch ihren Arbeitsplatz, der in nächtlicher Abgeschiedenheit die Vorzüge eines filmischen Geisterhauses in sich vereint. Es gibt einen im Dunkeln schimmernden Pool; lange, leere Flure mit riesigen, Schatten werfenden Hirschgeweihen; einen Licht-Zeitschalter im Keller, der abrupt für totale Finsternis sorgt. Eine klamme, unwirkliche Atmosphäre legt sich über die Räume, das garantieren die Ausleuchtung von Kameramann Martin Gschlacht und ein Ton-Design, das seltsame Klänge schätzt, die aus der Stille hervortreten. Einmal geht Irene einen blendend weißen Gang hinunter und scheint sich in nichts aufzulösen. Plötzlich steht sie im Wald vor dem Hotelgebäude, im Schwarz der Nacht.
Dieser Moment wirkt wie eine perfekte Illustration der eigenartigen Außenseiterstellung, die „Hotel“ bei seinem Erscheinen 2004 im österreichischen Kino einnahm. Spätestens mit ihrem Langfilmdebüt „Lovely Rita“ (2001) galt die Regisseurin Jessica Hausner als weitere typische Schlüsselfigur unter den vielversprechenden jungen Filmemacherinnen des Landes. Schon in den 1990ern hatte eine Gruppe von Studentinnen der Wiener Filmakademie mit bemerkenswerten Kurzfilmen Aufsehen erregt: Hausner, Kathrin Resetarits, Mirjam Unger und vor allem Barbara Albert. Nachdem Albert mit dem ersten Spielfilmdebüt dieses Filmemacherinnen-Quartetts, „Nordrand“, 1999 im Wettbewerb von Venedig gelandet war, war daheim bald von einem (mit einer gewissen Genugtuung weiblich konnotierten) „österreichischen Filmwunder“ die Rede: Nach den arrivierten Regisseuren Michael Haneke und Ulrich Seidl, renommierten Dokumentaristen wie Nikolaus Geyrhalter und den weltweit gefeierten Avantgardisten Peter Tscherkassky und Gustav Deutsch schien nun eine starke junge Generation endgültig den internationalen Status des heimischen Filmschaffens zu zementieren.
Um künstlerische Unabhängigkeit zu wahren, wurde von Albert, Hausner, Gschlacht und Antonin Svoboda die Produktionsgesellschaft Coop 99 gegründet. Das half, sich im österreichischen Produktionsgeschehen mit seinen harten Verteilungskämpfen um Subventionen und dem Kommerzdruck durch etablierte größere Filmfirmen zu behaupten. Der Austro-Film wurde in den nächsten Jahren zu einem Liebkind internationaler Filmfestivals, Coop 99 zu einem der wesentlichen Lieferanten dieses Nischenprodukts. Der Firma gelang es zuletzt sogar in internationalen Koproduktionen, deutliche didaktische Spuren zu hinterlassen: zum Beispiel in Benjamin Heisenbergs „Schläfer“ oder im diesjährigen Berlinale-Sieger „Grbavica“ von der Bosnierin Jasmila Zbanic.
Wie fast immer beim Entdecken solcher nationaler hot spots im Filmgeschehen (in der letzten anderthalb Dekaden etwa Iran, Taiwan oder zuletzt Südkorea) ging damit eine Klischee-Erwartung einher, die auch bedient wurde: Im Falle Österreichs regierte ein Realismus-Dogma mit Hang zur Depression oder zumindest zu einem gewissen Determinismus. Neben finanzieller Überlebenslogik – Festivaleinsätze sind im österreichischen System ein Förderungsgarant – spielte wohl ein nationales Trauma eine große Rolle: Bis in die 90er gab es im Austro-Film – abgesehen von Einzelgängerwerken – praktisch keinen Kino-Realismus. Der einzige bedeutende realistische Filmemacher des Landes war ein Exilkanadier: John Cook, der in den 70ern und 80er vier großartige Filme hatte realisieren können, bevor die nötigen Konditionen für seine Arbeitsweise wegbrachen.
Auf eine ganz andere Weise spiegelt sich in dem, was „Hotel“ versucht, ein späterer kritischer Paradigmenwechsel: Nach ein paar Jahren der Euphorie war eingesickert, dass die auch schon (etwas verzweifelt) als „Nouvelle Vague Viennoise“ etikettierte Kinobewegung trotz der naturalistischen Oberflächen anderen Konstruktionsprinzipien folgte. Der vielbeschworene Determinismusvorwurf gegen die dunklen sozialrealistischen Erzählungen führte ausgerechnet beim ambitioniertesten Werk der letzten Jahre zu Unverständnis seitens eines Großteils der heimischen Kritik: In ihrem zweiten Spielfilm „Böse Zellen“ versah Barbara Albert ihre Erzählungen von sich „zufällig“ überschneidenden Schicksalen mit einem reichen reflexiven Überbau und thematisierte die eigene Sinnsuche durch eine barocke Vielfalt an in Film auftauchenden Interpretationsmöglichkeiten von „Wirklichkeit“.
Im Rückblick zeigt sich Alberts Film mit seinem faszinierenden Kuddelmuddel aus Meta und Mittendrin noch deutlicher als eine Art Ausbruchsversuch, ganz unverwechselbar war es anschließend bei Hausners Vorstoß in eine entgegengesetzte Richtung: Rückgriff aufs Genre. Schon der kühle, knappe, ästhetisierte Stil steht im krassen Gegensatz zu Austro-Klischee-Erwartungen, ihr „Hotel“ ist auch aus einem ganz anderen filmhistorischen Fundus gebaut, bewegt sich in der Nähe der übernatürlichen Ambient-Fantasien von David Lynch und des modernen Hotel-Horrors von Kubricks „The Shining“, samt Suspense-Resten von Hitchcock-Klassizismus. Dahinter gähnt allerdings, scheinbar bewusst, nur exquisite Leere.
In vage unheimlicher Atmosphäre schnappt die Protagonistin Irene nach und nach Andeutungen auf, aus denen sich vielleicht nicht eine Geschichte, aber wenigstens eine (Vor-)Ahnung konstruieren lässt. Sie hört von ihrer Vorgängerin, die verschwunden ist, und von einer Waldhexe. Irene dreht weiter ihre Runden, die Kamera fährt ihr meist hinterdrein: Von der bewusst anämisch konzipierten Hauptfigur gibt es nur mehr den Rücken zu sehen. Es ist in vieler Hinsicht die charakteristische Einstellung des Films.
Denn „Hotel“ ist letztlich ein Genrefilm, der sich über das Genre stellt, ein Horrorfilm, den nur die Andeutung von Horror interessiert, ein Kunstthriller. Unbefriedigend ist er trotz technischer Raffinesse, weil er sich im Akt der Nivellierung erschöpft: Zwar gibt es sorgsam ausgelegte Fährten und schön komponierte Momente, aber sie bleiben reaktionslos nebeneinander stehen. Bei diesem offensichtlichen Nachvollzug einer unerklärlichen Welt fällt nicht mehr ab als stilsichere Unheimlichkeit. Es fehlt jede Motivation (das unterscheidet „Hotel“ gravierend von ähnlich ruhig arbeitenden neueren japanischen Horrorfilmen), und im Gegensatz zu „Shining“, in dem Kubrick individuellen Zerfall beschrieb, scheinen die Individuen hier ohnehin schon zerfallen.
Letztlich steuert Hausner konsequent das Verschwinden und damit die Andeutung eines endlosen Kreislaufs an: Ein selbstauflösendes Genre-Spiel, übrigens genau da am schwächsten, wo es am Rande auf typische Motive des jüngeren Austro-Kinos zurückgreift (insbesondere gilt dies für den Unterton adoleszenter Entfremdung, der glücklicherweise mehr skizziert als ausgespielt wird). Vielleicht sollte man „Hotel“ jenseits davon sehen, als schlichte Parabel.
In eine weitere Richtung weisen die gelungenen komischen Momente (eine hinreißend grantige Retourkutsche auf eine Routinefrage an der Rezeption, ein perfekter Auftritt von Schriftstellerin Marlene Streeruwitz als dominante Direktorin mit Hund): Mit etwas gutem Willen funktioniert Hausners Film dann als böses Gleichnis über den Verbrauch menschlicher Ressourcen in der Fremdenverkehrsindustrie.
Wirklich beunruhigend wirkt „Hotel“ allerdings nur als Allegorie auf die Krise im Selbstverständnis der jüngeren österreichischen Filmszene: Zwei weitere wesentliche Filmansätze zur Erneuerung von 2005, beide allerdings wieder im typischen Idiom, haben seither ebenfalls nur Ratlosigkeit angeboten. Jörg Kalts „Crash Test Dummies“ zerrieb sich sympathisch zwischen gewohntem urbanen Episoden-Realismus und ironischer Brechung durch forcierten Witz, Svobodas Spielerdrama „Spiele Leben“ steuert sein Sujet in thematische Selbstauslöschung durch Beliebigkeit. Während darauf gehofft wird, dass Alberts dritter Film „Fallen“, der voraussichtlich beim Filmfestival in Venedig vorgestellt wird, Zeichen für eine Überwindung dieser ästhetischen Stagnation liefert, hat sich die Situation der Branche weiter zugespitzt: Nachdem durch vermehrte Gründung junger, unabhängiger agierender kleiner Produktionsfirmen die Anteile an den knapp bemessenen Subventionstöpfen für alle geschrumpft sind, haben die Vertreter der etablierten großen Filmproduzenten Anfang April den gemeinsamen Produzentenverband im Streit verlassen.
„Hotel“. Regie: Jessica Hausner. Mit Franziska Weisz, Marlene Streeruwitz u. a., Österreich/ Deutschland 2004, 83 Min.