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Archiv-Artikel

„Familiensplitting wäre Irrweg“

Ex-Verfassungsrichterin findet deutsches Kinderbetreuungsangebot verfassungswidrig

taz: Frau Jaeger, die CDU hat letzte Woche begonnen, über ein Familiensplitting zu diskutieren. Dabei würden die Einkünfte einer Familie nicht nur auf die Ehepartner, sondern auch auf die Kinder verteilt, was bei Familien mit Kindern noch mehr Steuern spart. Doch diese Diskussion wurde wieder eingestellt. Eine vertane Chance?

Renate Jaeger: Überhaupt nicht. Das Familiensplitting wäre eher ein Irrweg in der Familienpolitik.

Warum?

Weil es die Institution Familie erneut mit dem Steuerrecht retten will. Aber Steuervergünstigungen nützen nun mal denjenigen am meisten, die gut verdienen und deshalb viele Steuern zahlen müssen. Dort lohnt es sich, das Einkommen auf viele Köpfe zu verteilen, um so der Progression [dem Ansteigen des Steuersatzes bei höheren Einkommen d. Red.] zu entgehen.

Was wäre Ihre Alternative zum Familiensplitting?

Wer wenig oder gar nichts verdient, hätte mehr von einer Erhöhung des Kindergelds oder – noch besser – von einer Verbesserung der Kinderbetreuung. Gerade bei der Kinderbetreuung ist die Situation in Deutschland immer noch verfassungswidrig schlecht.

Gibt es einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Kinderbetreuung?

Natürlich. Das Bundesverfassungsgericht garantiert den Eltern Wahlfreiheit, ob ein Elternteil zur Kindererziehung zu Hause bleibt oder ob beide Eltern ihren Beruf mit der Familienarbeit verbinden. Bisher gibt es aber keine wirkliche Wahlfreiheit.

Wie meinen Sie das?

Die Frau hat bisher die Wahl, zu Hause zu bleiben oder geringfügig zu arbeiten, und wird darin noch mit dem Ehegattensplitting vom Staat bestärkt. Eigentlich muss sie aber auch die Wahl haben, sich mit Kindern für eine volle Berufstätigkeit zu entscheiden. Diese Wahlfreiheit fehlt bisher, weil es meist keine ausreichende und bezahlbare Kinderbetreuung gibt. Hier hat der Staat eine Verfassungspflicht, entsprechende Angebote zu schaffen.

Dem Staat fehlt das Geld.

Dann sollte er eben doch mal über eine Abschaffung des Ehegatten-Splittings nachdenken. Es ist erfreulich, dass inzwischen sogar manche in der CDU das Splitting in Frage stellen.

Die CSU hält das Splitting aber für eine verfassungsrechtliche Pflicht. Ist das falsch?

Das Grundgesetz lässt das Ehegattensplitting zu, schreibt es aber nicht vor. Es könnte also zugunsten einer Individualbesteuerung abgeschafft werden.

Wie sähe eine Individualbesteuerung aus?

Jeder Ehegatte wird für sich besteuert. So ist es in fast allen europäischen Ländern. Der finanzielle Bedarf für Kinder, Ehegatten und andere Unterhaltsberechtigte muss dabei natürlich auch berücksichtigt werden. Die Individualbesteuerung entspricht einem modernen Steuerrecht.

Warum?

Alle fordern immer ein einfaches und transparentes Steuerrecht. Wer ausgerechnet dort Familienpolitik betreiben will, macht es aber noch undurchschaubarer. Das Splitting ist systematisch ein Fremdkörper im Steuerrecht. INTERVIEW: CHRISTIAN RATH