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Archiv-Artikel

Das Gedächtnis kommt zurück

CHILE Die Hauptstadt Santiago stellt sich der Vergangenheit. Die Historikerin Francisca Herrera Crisan führt Touristen zu den Orten der Pinochet-Diktatur – und zum neuen Museum der Erinnerung und Menschenrechte, das vom Erdbeben schwer beschädigt war

Chile-Tipps

Flug: Zum Beispiel mit TAM Airlines, täglich ab Frankfurt über São Paulo nach Santiago de Chile (ab 920 Euro, www.tam.com).

Rundgang: Den rund dreistündigen Rundgang mit Francisca Herrera Crisan auf den Spuren der Diktatur bietet die Agentur Bicicleta Verde täglich für 50 Euro pro Person, auf Französisch, Spanisch oder Englisch an, ab 9.30 Uhr oder ab 15 Uhr. Bei einer ganztägigen Tour kann die Villa Grimaldi besucht werden, das Restaurant de Peyo, wo sich Diktaturgegner trafen, und das Museum der Erinnerung www.labicicletaverde.com.

Museum: Das Museo de la Memoria ist ab August wieder für Besucher geöffnet. Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, Eintritt frei (Avenida Matucaba 501, Metro Linie 5 bis Quinta Normal, Tel. 00 56/23 65 11 65, www.museodelamemoria.cl.

Den Führer zur „Ruta de la Memoria“ kann man unter bit.ly/aRBREB herunterladen.

VON MIRCO LOMOTH

Ein altes Gebäude in der Calle Londres, Hausnummer 38, eine schöne Fassade mit Fensterläden aus massivem Holz. Wir sind im touristischen Stadtviertel París-Londres. Auf dem Gehweg bleiben Passanten stehen, sie schauen auf Metallplaketten im Kopfsteinpflaster, lesen Namen – Carlos Alberto Cuevas Moya, 21 Jahre, Kommunistische Partei, Alejandro Arturo Parada González, 22 Jahre, Sozialistische Partei. Es sind Stolpersteine. Sie sollen an die 96 Menschen erinnern, die in den ersten Jahren der Pinochet-Diktatur hier in der Calle Londres 38 festgehalten, gefoltert und ermordet wurden. Mitten in der Altstadt von Santiago.

„Das Haus war bis zum Staatsstreich 1973 Sitz der Sozialistischen Partei und danach wurde es von der Geheimpolizei als Haft- und Folterzentrum genutzt“, sagt Francisca Herrera Crisan. Die Historikerin führt Touristen auf den Spuren der Pinochet-Diktatur durch Santiago. Zu Orten wie „Londres 38“, die erst in den letzten Jahren zu offiziellen Erinnerungsorten geworden sind. „Noch vor drei Jahren gehörte dieses Haus einem seltsamen Institut mit dem Namen O’Higgins und hatte eine falsche Hausnummer“, sagt Herrera. Doch 2008 wurde es vom Ministerium für Nationale Liegenschaften erworben und der Vereinigung der Opfer übergeben, die es noch dieses Jahr für die Öffentlichkeit zugänglich machen will – rund zwei Jahrzehnte nach dem friedlichen Übergang zur Demokratie. „Es war in Chile lange Zeit wichtiger, in die Zukunft zu schauen und Dinge zu vergessen, die Schmerzen verursachen“, sagt Herrera. „Doch jetzt beschäftigen sich immer mehr Leute damit, was diese Orte erzählen.“

Es ist etwas in Bewegung gekommen in Chiles Hauptstadt. Nicht nur ist die Luft reiner als noch vor ein paar Jahren, weil die Motoren der Stadtbusse radikal modernisiert wurden, auch der Nebel der Vergangenheit hat sich etwas gelichtet. Das Ministerium für Nationale Liegenschaften hat Ende 2008 eine Route der Erinnerung in Santiago entworfen, einen gedruckten Führer dazu veröffentlicht und vor kurzem auch einen Dokumentarfilm. All dies soll ein öffentliches Bewusstsein für Orte zu schaffen, an denen zu Diktaturzeiten Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden. Aufzuarbeiten gibt es viel: Die Wahrheitskommissionen haben in ihren Berichten rund 3.000 Fälle ermordeter und verschwundener Chilenen und mehr als 28.000 Folteropfer dokumentiert, landesweit wurden 1.132 Haft- und Folterzentren nachgewiesen.

Eine der 14 Stationen auf Santiagos Route der Erinnerung ist die Bulnes-Brücke westlich des Zentrums, wo im Oktober 1973 vierzehn Jugendliche hingerichtet wurden, mit Schüssen in den Rücken. Heute findet man hier ein Mosaik aus Kacheln mit Porträts der Opfer. Ganz im Osten der Stadt, in Peñalolen, kann man die berüchtigte Villa Grimaldi besuchen, die in den achtziger Jahren abgerissen wurde, um Spuren von Mord und Folter zu verwischen. Inzwischen ist an diesem Ort ein Friedenspark entstanden. Oder das Chile-Stadion in der Nähe des Hauptbahnhofs, das nach dem Staatsstreich als Gefangenenlager missbraucht wurde. Seit 2003 trägt es den Namen Víctor-Jara-Stadion. Der politische Liedermacher hat hier ein letztes Gedicht geschrieben, bevor er ermordet wurde. Im Film des Ministeriums singt es Isabel Parra.

Wir gehen durch die Altstadt zum Präsidentenpalast La Moneda. Es ist das politische Zentrum Santiagos – und der symbolischste Ort für den Staatsstreich vom 11. September 1973. Es war ein Dienstag, gegen Mittag kamen Flugzeuge aus dem Norden und bombardierten den Präsidentenpalast. Der drei Jahre zuvor gewählte Präsident Salvador Allende Gossens kam noch am selben Tag ums Leben, er soll sich erschossen haben, doch der Selbstmord ist umstritten. General Augusto Pinochet riss als Vorsitzender der Militärjunta die Macht an sich.

„Aber es wird noch immer um Deutungen gekämpft“

Francisca Herrera Crisan

Schräg vor dem Präsidentenpalast steht heute eine Statue Salvador Allendes. „Es hat nach dem Übergang zur Demokratie neun Jahre gedauert, bis sie diese Statue aufgestellt haben, viel zu lange“, sagt Herrera. „Die chilenische Gesellschaft ist noch immer gespalten, wenn es um die Vergangenheit geht, erst vor kurzem habe ich hier eine Frau gesehen, die im Vorbeigehen ausgespuckt hat.“

Hundert Meter weiter, in der Calle Morande, bleiben wir vor einer Seitentür des Präsidentenpalasts stehen, Hausnummer 80. „Durch diese Tür ist Salvador Allende jeden Tag hineingegangen, hier haben die Militärs seinen toten Köper herausgetragen“, erzählt Herrera. Danach haben sie den Palast ohne Allendes Tür wieder aufgebaut, erst 2003 wurde sie unter Präsident Ricardo Lagos wieder geöffnet, zum 30. Jahrestag des Putsches.

Auch Michelle Bachelet, die Nachfolgerin von Ricardo Lagos, die am 11. März ihr Amt an den rechtskonservativen Sebastián Piñera übergeben musste, setzte sich aktiv für die Aufarbeitung der Vergangenheit ein. Sie war unter Pinochet selber gefoltert worden und ging ins Exil in die DDR. Vor zwei Jahren eröffnete Bachelet den restaurierten Salón Blanco im Präsidentenpalast, den „weißen Salon“, das Arbeitszimmer Allendes, in dem er regierte – und in dem er starb.

Und sie setzte sich für das Museum der Erinnerung und der Menschenrechte ein, das im Januar eröffnet wurde. Das Museum ist ein spektakulärer Neubau, ein grüner Quader, gefüllt mit mehr als 40.000 Ausstellungsstücken und Dokumenten. Stundenlang kann man durch die Ausstellung gehen und die Zeugnisse der Geschichte auf sich wirken lassen – vom Militärputsch bis zur Volksabstimmung 1988, die Chile schließlich auf friedlichem Wege zurück zur Demokratie führte. „Wir wollen mit der Ausstellung zeigen, was in unserem Land passiert ist, denn vieles ist noch unbekannt“, sagt Museumsdirektorin Romy Schmidt.

Der Andrang im Museo de la memoria y los Derechos Humanos war von Anfang an überwältigend, in den ersten sechs Wochen kamen gut 50.000 Besucher. Doch mit dem verheerenden Erdbeben in Chile Ende Februar wurden große Teile der Ausstellung zerstört, das Gebäude musste für Besucher geschlossen werden. Schmidt hofft auf eine Wiedereröffnung zum August.

„Wir sind in Chile weit gekommen mit der Aufarbeitung“

Wir steigen in die Metro und fahren zum Generalfriedhof im Stadtteil Recoleta. Die Geheimpolizei hat im sogenannten Patio 29 Körper von Folteropfern illegal verscharrt, hier befinden sich die Gräber von Salvador Allende und Víctor Jara. Erst im Dezember haben tausende Chilenen die Überreste des Liedermachers begleitet, die exhumiert worden waren, um die näheren Umstände seines Todes zu untersuchen – laut Autopsie-Bericht waren es 44 Schüsse in Kopf, Brust, Arme und Beine. Am Mahnmal der Opfer der Diktatur legt eine Frau Blumen nieder, sie weint. Vor ihr in Stein gemeißelt eine lange Liste mit Namen, Angehörige haben Fotos mitgebracht. „Es ist für viele Leute ein sehr wichtiger Ort, der ihren Angehörigen einen Namen gibt“, sagt Herrera.

Am Mausoleum Salvador Allendes liegen frische Blumen. Es ist angelegt wie ein Podium, weiße Stelen ragen in den Himmel, auf einem Steinpult ist ein Auszug aus Allendes letzter Rede vom Morgen des 11. September 1973 eingraviert: „Arbeiter meiner Heimat, ich glaube an Chile und seine Zukunft. Andere werden diesen grauen Moment überwinden.“

Wir verlassen den Friedhof durch den Haupteingang im Süden. Der Rundgang endet bei einem großen Mausoleum, das dem Juristen Jaime Guzmán Errázuriz gewidmet ist, ein enger Vertrauter von Augusto Pinochet, der die chilenische Verfassung von 1980 mitverfasst hat und 1991 ermordet wurde. „Guzmán hat mit seiner Arbeit die Menschenrechtsverletzungen der Diktatur im Namen von Recht und Ordnung legitimiert“, sagt Herrera. „Wir sind in Chile weit gekommen mit der Aufarbeitung der Vergangenheit, aber dieser Ort zeigt, dass noch immer um Deutungen gekämpft wird.“ Das Mausoleum wurde 2007 eingeweiht, es liegen immer frische Blumen davor.