: Schleichende Invasion
Pilzerkrankungen nahmen in den letzten Jahren drastisch zu. Zwar sind nicht alle Pilzinfektionen in gleichem Ausmaß gefährlich. Aber manchmal kann es viele Jahre dauern, bis man die unerwünschten und lästigen Mitbewohner wieder loswird
VON GISELA SONNENBURG
Pilze kommen, um zu bleiben. So verschieden die einzelnen Spezies der drei Hauptgruppen – Dermatophyten, Hefen und Schimmelpilze – auch wirken, so hartnäckig sind sie alle. Und: Pilze begünstigen einander, was heißt, dass ein Pilz nur selten allein bleibt. Zwar sind nicht alle Pilzerkrankungen in gleichem Ausmaß gefährlich. Aber beängstigend sind die Zahlen ihrer Expansion im letzten Vierteljahrhundert: Pilzinfektionen verdoppelten sich. Die Aspergillose, die von der Lunge aus weitere Organe befällt, stieg gar ums Achtfache.
Der Vorsitzende der Deutschsprachigen Mykologischen Gesellschaft, Markus Ruhnke, erklärt den Pilzboom mit der Zunahme empfänglicher Patienten: „Bei Leukämieerkrankten, bei Patienten der Intensivstation sowie nach Organtransplantationen muss man mit invasiven Mykosen rechnen.“ Pilzbesiedelungen der inneren Organe – Ruhnke, Infektologe und Onkologe an der Berliner Charité, wendet dann starke Medikamente an. Mit Neuentwicklungen so genannter Antimyotika erzielt er Heilungsraten von 50 Prozent – bei Schwerstkranken.
Laut dem Neubrandenburger Immunologen Erwin Walraph sind Mykosen auch nach Chemotherapien und Bestrahlungen typisch: „Prinzipiell liegt die Ursache für Pilzerkrankungen in einer Schwächung des Immunsystems.“ Walraph schlägt spezifische Immuntherapien vor, als Krebsnachsorge und bei Pilzinfektionen generell. Für ihn ist nicht die Besiedelung mit Pilzen entscheidend, sondern die im Blut messbare Reaktion des Immunsystems auf sie.
Ruhnke hingegen wird zornig, wenn sich etwa der Inhaber eines „Sportlerfußes“ – eines schwitzigen Fußpilzes – mit Pilzopfern vergleicht, bei denen sich die Lunge auflöst: „Oberflächliche Hautpilze oder auch Hefen im Darm sind nahezu bedeutungslos, so was hat jeder Zweite.“ Gerade deshalb finden andere Ärzte, Homöopathen und Selbsthilfegruppen die pilzigen Zipperlein nicht unerheblich. Zumal die Rückfallquoten bei Haut- und Nagelpilzen hoch sind. So sind Menschen mit zehn Jahre alten Pilzstämmen an den Füßen keine Seltenheit; dass die Krankenkassen die notwendigen Sprays, Cremes, Lösungen und Lacke nicht zahlen, verschärft die Situation.
Denn jede Pilzbehandlung ist aufwändig, sollte konsequent und im Einklang mit einer gesunden, sprich: zuckerarmen Ernährung sowie bei einer an Kummer möglichst armen Lebensart stattfinden. Weil die Therapien zudem teuer sind, mag der Eifer, „lapidaren“ Pilzen zu Leibe zu rücken, rasch erlahmen. Erfahrene warnen jedoch vor einem leichtfertigen Umgang mit Mykosen. So weiß Christa Schröder, die eine Betroffenengruppe in Berlin gründete: „Ein bis zwei Jahre kann man bei einer Anti-Pilz-Therapie rechnen.“
Die Überraschung: Schröder rät, ebenso wie Walraph, von den meist in Tablettenform verschriebenen und also systemisch wirkenden Antimyotika gegen Darm- oder Fußpilz rundum ab. Der Grund: Nach der „chemischen Keule“ setze die Verpilzung erneut ein – als seien Pilze zu clever, sich kurzerhand aus dem Weg räumen zu lassen. Tatsächlich können sie bei Zuckermangel ihren Stoffwechsel auf die Verarbeitung von Eiweißen umstellen, und nicht nur Schröder machte die Erfahrung, dass falsch bekämpfte Pilze in den Tiefen des Gewebes überdauern.
Wissenschaftlich erwiesen ist indes nur wenig, was Pilze, vor allem ihre neueren Generationen betrifft. Jeder Experte hat eine eigene Theorie. Heilmittel wie Schwarzkümmelöl oder experimentell zusammengerührte Tinkturen werden ohnehin verkauft – die Schulmedizin schweigt dazu. Christa Schröder, die gerade einen Schlaganfall überlebte und zuvor jahrelang erfolglos chemisch behandelt wurde, empfiehlt hingegen Escherichia coli- und Milchsäurebakterien: um die Darmflora zu optimieren.
Der Berliner Facharzt für Mikrobiologie Bodo Richter, der mit speziellen Untersuchungen des Stuhlgangs Hinweise auf Pilze und Allergien ortet, unterstützt diese Selbstbehandlung: „Einmal im Jahr eine solche Kur zu machen ist absolut sinnvoll.“ Nebenwirkungen würden sich in Blähungen erschöpfen; die Pilze würden von den körpergemäßen Bakterien „natürlich“ ausgerottet.
Schließlich werden viele „rätselhafte“ Beschwerden mit Pilz in Zusammenhang gebracht. Bereits ein „harmloser“ Befall von Candida albicans, dem häufigsten Sprossenpilz (Hefe), soll den Menschen quasi schleichend verändern und vom Burnout-Syndrom über chronische Müdigkeit bis zur Depression führen. Ein schlechter Teint gehört ebenso zu möglichen Symptomen wie eine dauerverstopfte Nase – außerdem gelten Pilze als allergiefördernd.
Die Westerwalder Baubiologin Renate Krumscheid kennt zudem die Rolle der Umgebung: Pilze leben auch in Kissen und Matratzen, auf Tapeten, Teppichen, Gardinen. Und Krumscheid warnt vor „dicker Luft“, denn Pilze lieben Mief: „Wer falsch lüftet, also das Fenster stundenlang kippt, statt zehn Minuten täglich mit Durchzug zu lüften, der baut Pilzen über den Heizungen regelrechte Brücken“, sagt sie. Vorsicht ist auch bei Blumenerde und der Biotonne angesagt: Letztere sollte nicht nah bei den Fenstern oder Türen stehen. Immungeschwächte Personen wie Senioren sollten zudem Schimmelsporen auch meiden, wenn sie von Blumen oder vom Obst rühren. Denn wie Ruhnke meint: „Die Pilze tun nur ihren Job, ob in der Tonne oder in der Lunge.“ Und um Erlaubnis fragen sie vorher nicht.