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Archiv-Artikel

Ein Tatra-Traum

SLOWAKEI Vor der Achtelfinalpartie gegen die Niederlande hoffen die Slowaken darauf, dass sie ihre Euphorie weiter im Turnier halten wird. Nach dem Erfolg gegen Weltmeister Italien befindet sich das ganze Land im Trancezustand

AUS BRATISLAVA SASCHA MOSTYN

„Über der Tatra leuchten die Blitze, wild hallt der Donner“, singen die Slowaken in ihrer Nationalhymne. Das Lied aus dem Jahre 1851 sollte ursprünglich die nationale Wiedergeburt der Slowaken einleiten. Seitdem die Slowaken am vergangenen Donnerstag den amtierenden Weltmeister Italien mit 3:2 ins WM-Aus geschossen haben, ist es die Begleitmusik der slowakischen Reinkarnation als Fußballnation.

Es ist nicht das nach dem Unentschieden gegen Neuseeland und der Niederlage gegen Paraguay erwartete Sommergewitter, das über Tatra und Donau blitzt und donnert. Es ist ein Sommermärchen. Mit ihren drei Toren gegen Italien hat die slowakische Nationalmannschaft nicht nur den Gegner blamiert, sondern machte, wenn auch nur für kurze Zeit, die Alltagssorgen ihrer Landsleute vergessen. Von der Hauptstadt Bratislava im Westen bis zur ostlowakischen Metropole Kosice – auf den im Sommer traditionell von Cafés gesäumten Straßen und Plätzen der Fünf-Millionen-Einwohner-Republik wurde gefeiert, gejubelt und gesungen. „Slovakia, Slovakia, arrividerci Italia“, riefen die Fans auf ihrem Weg vom Public Viewing am Donauufer von Bratislava in die Gassen der Altstadt.

„Es ist unglaublich“, freut sich Robert. „Bis zur letzten Sekunde habe ich geglaubt, die Italiener hauen uns noch ein Tor rein.“ „Die Slowakei erlebt einen unglaublichen Fußballorgasmus“, titelt das Internet-Portal „Plus jeden den“ (Plus einen Tag) und vergleicht die Nationalspieler mit dem slowakischen Nationalhelden Janosik, dem Robin Hood der Hohen Tatra: „Unsere Janosiks, an die schon niemand mehr glaubte, beraubten nach einem großen Drama die eingebildeten Weltmeister aus Italien“, frohlockte der Newsserver.

Bei all dem Enthusiasmus wird ein Sieg gegen die Niederländer fast schon zur Nebensache. „Nicht nur, dass wir den Weltmeister besiegt haben. Wir gehören jetzt zu den 16 besten Fußballnationen der Welt“, freut sich Pavol, der in einem Straßencafé in Bratislava mit Freunden die weiteren Chancen der Slowaken in Südafrika diskutiert. Die Hauptstadt ist seit Donnerstag im Rot-Weiß-Blau der slowakischen Nationalfarben erstrahlt und von einer Welle der guten Laune erfasst. „Wir sind ein kleines und recht unbedeutendes Land, zum ersten Mal in unserer Geschichte spielen wir bei einer Fußball-WM mit und schaffen es bis ins Achtelfinale“, erklärt Pavol: „Das ist ein Traum.“ Ein Traum, den eigentlich keiner gewagt hat zu träumen. Nach dem 1:1 gegen Neuseeland und dem 0:2 gegen Paraguay waren die slowakischen Fußballer kurz davor, sich den Rückflug nach Mitteleuropa zu reservieren. Teamchef Vladimir Weiss hatte sich schon fast eine Beschwerde slowakischer Journalisten bei der Fifa eingehandelt, nachdem er sie nach dem Paraguay-Spiel bis auf wüste Beschimpfungen völlig ignoriert hatte. Stürmer Robert Vittek war trotz seines Tors gegen Neuseeland zum Spottobjekt der slowakischen Presse geworden, die dem 28-jährigen Ex-Bundesligaspieler nahelegte, nach der WM in den Ruhestand zu gehen.

Doch 90 Minuten und zwei Tore später ist Robert Vittek nicht nur in der WM-Torschützenliste vorne, sondern auch der neue slowakische Nationalheld. „Schon vor dem Spiel wussten wir, dass wir spielen müssten, als ob es kein morgen gäbe“, sagte Vittek nach dem Sieg gegen Italien. Man habe eben auch mit dem Herzen gespielt und so die Grenzen des slowakischen Fußballs versetzt, erklärte Vittek, der momentan für den türkischen Erstligisten Ankaragücü kickt, aber gerne wieder zum 1. FC Nürnberg zurückkehren würde, dessen Dress er von 2003 bis 2008 trug.

Eines ist jedenfalls klar: Den Sieg über Italien, aber auch gegen sich selbst und die öffentliche Meinung in der Heimat wird den Slowaken auch eine Niederlage gegen die Niederlande nicht mehr wegnehmen. Die stehen als Favoriten unter Druck, während die Slowaken gar nicht mehr verlieren können. „Uns geht es gut und so werden wir auch spielen“, verriet Nationaltrainer Vladimir Weiss seine Taktik für das heutige Spiel: „Man weiß ja nie.“ Vielleicht geht das Sommermärchen ja tatsächlich weiter: In der slowakischen Nationalhymne erwecken Blitz und Donner die Slowakei dazu, zu sich zu kommen.