: Der stille Konter
70 Prozent der Iraner sind unter 30 Jahre alt – eine Mehrheit, die sich Freiheiten erkämpft
AUS TEHERAN KRISTIN HELBERG
Ein junges Paar sitzt vertraut auf einer Parkbank, sein Arm liegt um ihrer Schulter. „Ich glaube nicht, dass sie verheiratet sind“, meint Bahareh und schlendert lässig an den beiden vorbei. Fast täglich kommt Bahareh in ihren Lieblingspark, um abzuschalten und durchzuatmen. Eine grüne Oase inmitten der im Verkehr erstickenden 10-Millionen-Metropole Teheran. Die 30-Jährige arbeitet für eine Computerfirma, sie wohnt und sorgt für sich allein – eine Seltenheit im Iran. Ihre Eltern und ihr jüngerer Bruder sind vor fünf Jahren in die USA ausgewandert. Bahareh sollte ihnen kurz darauf folgen, aber die amerikanischen Behörden geben ihr bis heute kein Visum.
Volksfest und Freiluftparty
Unter Bäumen im Park picknickt eine Familie auf mitgebrachten Teppichen, während 100 Meter weiter eine Mischung aus Volksfest und Freiluftparty steigt. Auf einer Asphaltbahn drehen Jungs und Mädchen auf Rollerblades ihre Runden, aus Lautsprechern dröhnt westliche Diskomusik. Kleine Kinder rutschen auf der Rutsche, ihre Eltern essen Eis, Jungs mit gegelten Haaren werfen unverhohlene Blicke und Mädchen in knallengen Kurzmänteln schieben ihr Kopftuch noch einen Zentimeter weiter nach hinten. Hormone schwirren durch die laue Abendluft, und ich bin irritiert. Islamische Republik Iran? Kopftuchzwang? Konservative an der Macht? Bahareh sieht meine fragenden Blicke und lacht. „Hierher kommen keine Revolutionswächter.“ Die Regierung könne ihre Kleidervorschriften niemandem mehr aufzwingen, denn damit würde sie eine gesellschaftliche Explosion riskieren, erklärt die junge Frau.
Ein Jahr nach Präsident Ahmadinedschads Machtübernahme geht es im Iran freier zu als je zuvor. Jungen und Mädchen sitzen zusammen in Cafés und laufen Händchen haltend über die Straße, das Kopftuch ist zum modischen Accessoire oder politischen Statement verkommen. Irans Jugend lässt sich ihre einmal erkämpften Freiheiten nicht wieder nehmen, sie weiß um ihre Macht. 70 Prozent der Iraner sind unter 30 Jahre alt, mit einer solchen Mehrheit will es sich auch Ahmadinedschad nicht verscherzen. Seine neue Devise lautet deshalb: Überzeugen statt unterwerfen. Die Jugendlichen sollen aus freien Stücken zu moralischer Einsicht kommen, nicht unter staatlichem Zwang. Ob die Erziehungskampagne der Konservativen Erfolg hat, scheint jedoch fraglich.
„Diese Generation ist anders, als wir es waren“, meint die Herausgeberin Shahla Laheji. Die 64-Jährige war wie die meisten Iraner ihres Alters begeistert von Chomeinis islamischer Revolution. Heute sitzt die große, kämpferische Frau in ihrem Verlag, umgeben von Büchern, die der Zensur zum Opfer gefallen sind, drei Titel allein in den letzten sechs Monaten. „Wir sind weit entfernt von den ursprünglichen Ideen der Revolution“, seufzt Laheji. „Wir wollten die Diktatur zerstören, weil wir auf Freiheit und Demokratie hofften, aber dann folgte ein weiteres totalitäres System.“
„Verflucht sei eure Revolution“
Zu der eigenen Enttäuschung kämen jetzt die Vorwürfe der Jugend. „Aus Sicht der heute 20-Jährigen hat die Revolution nur Schlechtes gebracht“, erklärt die Herausgeberin. In vielen Familien machten Kinder ihre Eltern deshalb für die aktuellen Probleme verantwortlich. „Sie sagen ‚Verflucht sei eure Revolution!‘ und sind gegen alles, was mit dieser Revolution zusammenhängt.“
Aus dem enttäuschten Idealismus der Eltern ist bei den Kindern ein pragmatischer Egoismus geworden. Während Leute wie Laheji für nationale Unabhängigkeit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit kämpften, wollen die Jugendlichen von heute nur noch eines: persönliche Freiheit. Davon hätten sie ziemlich genaue Vorstellungen, sagt die Unternehmerin, „denn sie kommunizieren mit der ganzen Welt“.
Parastoo beispielsweise verbringt täglich mehrere Stunden im Internet. Die junge Frau mit dem nachlässig gebundenen grünen Seidenschal und der randlosen Brille ist eine von etwa 65.000 iranischen Bloggern, die ihre Gedanken über eigene Websites verbreiten. „Das Internet ist das einzige freie Massenmedium im Iran“, sagt die 25-Jährige, die vor allem über Gesellschafts- und Frauenthemen schreibt. Die auf Persisch verfassten Weblogs erreichen Iraner im In- und Ausland, dabei entstehe ein wichtiger Austausch, sagt Parastoo. Viele ihrer liberalen Ansichten hat sie von iranischen Freunden im Westen. „Was den Umgang mit der Familie und die eigene Unabhängigkeit angeht, habe ich einiges von ihnen gelernt.“
Parastoo führt mich durch das Iranische Künstlerforum, ein Teheraner Kulturzentrum. Im ersten Stock wird gerade eine Fotoausstellung eröffnet. Ein junger Mann in Jeans und T-Shirt kommt auf uns zu, begrüßt Parastoo mit Handschlag, die beiden wechseln ein paar Worte, dann mischt er sich wieder unter die Ausstellungsbesucher. „Mein Exfreund Nummer 2“, erklärt die Bloggerin mit einem Augenzwinkern. Inzwischen ist sie bei Nummer 4. Eine Beziehung zu haben, sei heutzutage völlig normal im Iran, meint die Journalistin. Nur Sex vor der Ehe sei nach wie vor ein Tabu. „Viele Eltern wissen davon und ignorieren es“, sagt Parastoo. Sie könnten es ihren Kindern ohnehin nicht verbieten. „Statt an die Uni gehen die Mädchen zu ihrem Freund nach Hause“, erzählt die junge Frau. Oder in die Wohnung des Freundes eines Freundes.
Der Grund für Doppelmoral und Versteckspiele sei die Schwierigkeit zu heiraten, erklärt Soheil, ein Student, der für verschiedene Onlinemagazine schreibt. Wir sitzen in der Lobby eines internationalen Hotels – der einzige Ort, an dem er frei reden könne, sagt Soheil. „Ohne eine Wohnung und einen gut bezahlten Job findest du im Iran keine Frau, die dich heiratet.“ Die schlechte wirtschaftliche Lage und die hohe Arbeitslosigkeit machen es für junge Männer folglich fast unmöglich, eine Familie zu gründen, meint der 23-Jährige. Gehe es bei der Partnerwahl denn nicht vielmehr um Liebe und gegenseitiges Verständnis, frage ich. Soheil fährt sich mit der Hand durch die zerzaust gestylten Haare und lacht bitter. „Beim Thema Heiraten denken selbst die liberalsten Frauen traditionell“, sagt er. Iranerinnen wollten durch eine Hochzeit noch immer wirtschaftlich abgesichert sein, deshalb drehe sich alles um den Wohlstand, um die Ausbildung und die Herkunft des Mannes. „Nach außen geben sie sich modern und befreit, aber innerlich sind sie in den Jahrhunderte alten Traditionen dieser Gesellschaft gefangen“, meint Soheil.
Das gelte für Frauen wie für Männer. Der ständige Versuch, den Westen nachzuahmen, sei kein Zeichen inneren Wandels, sondern eine Form von Protest, so der Onlinejournalist. Bewusst oder unbewusst zeigten die Jugendlichen mit ihren Gelfrisuren, operierten Nasen und zerrissenen Jeans, dass sie gegen die Herrschaft der Mullahs seien und stattdessen Freiheit und Demokratie à la Amerika wollten, sagt Soheil. Manche Teheraner haben es dabei zu solcher Perfektion gebracht, dass sie westlicher sind als der Westen selbst. Ihr Styling und Auftreten erinnert eher an Werbespots und Videoclips ausländischer Fernsehsender als an den Alltag in Berlin, Paris oder New York. „Es geht darum, Grenzen zu überschreiten“, erklärt der Student. „Dafür machst du manchmal Sachen, die übertrieben sind.“ Die Moderne spielt sich nur an der Oberfläche ab. „Die Leute denken, wenn sie sich so anziehen wie im Westen, sind sie auch so frei wie im Westen“, sagt der junge Mann.
Irans Jugend ringt mit sich selbst. Sie fühlt sich hin- und hergerissen zwischen westlicher Moderne und iranischer Tradition, zwischen Stolz auf die persische Zivilisation und Hass auf das politische System. Computeringenieurin Bahareh spricht von einer Identitätskrise. „Die Iraner verlieren nicht nur ihre Kultur, sie verlieren auch ihre Religion.“ Denn wenn Politiker im Namen des Islam schlecht regierten, mache die Bevölkerung irgendwann die Religion dafür verantwortlich, sagt Bahareh. „Wenn muslimische Machthaber lügen und Unrecht tun und sich dabei auch noch auf Gott berufen, dann zweifelst du an deinem Glauben“, erzählt die junge Frau. „Du denkst, wenn das der Islam ist, dann will ich kein Muslim sein.“
Viele halten den Druck nicht aus
Bahareh hat sich intensiv mit dem Islam beschäftigt und einen tiefen Glauben entwickelt. Sie ist eine von wenigen modernen und überzeugten Musliminnen im Iran. Ich besuche die Computerexpertin in ihrer kleinen Souterrainwohnung. Während sie betet, blättere ich in alten Fotoalben. „Einige meiner besten Freundinnen leben inzwischen in Europa und Nordamerika“, erzählt Bahareh und setzt sich zu mir aufs Sofa. Die Leute hielten den Druck nicht aus. „Wenn du ständig Dinge tun musst, ohne daran zu glauben, dann wirkt sich das auf deine Psyche aus.“
Die Muslimin ist gegen jede Form von Zwang in der Religion. Verbote von Alkohol bis Satellitenfernsehen führen bei vielen Iranern zu einem Doppelleben, erklärt Bahareh. „Nach außen tun sie so, als würden sie sich an die Gesetze halten, aber privat leben sie ganz anders.“ Bei all den Lügen und Widersprüchen wüssten sie irgendwann selbst nicht mehr, wer sie wirklich sind. Die heutige politische und gesellschaftliche Realität im Iran habe mit den Idealen der islamischen Revolution nichts mehr zu tun, sagt die junge Frau traurig. „Meine Generation bezahlt den Preis für das Scheitern dieser Revolution.“