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Archiv-Artikel

BENNO SCHIRRMEISTER UNVERBREMT Der Public-Viewing-Skandal

Strittig bleibt nur die Public Viewing-Berichterstattung der Heimatzeitungen, Fernsehsender und Anzeigenblättchen. Genauer: Strittig bleibt allein die Frage, ob sie ein besonders dämliches neues, oder doch nur ein besonders dämliches Genre ist.

Denn Vorläufer gibt’s, etwa die Kirmes-Berichterstattung. Doch die unterscheidet sich in einem zentralen Punkt: Eine Jahrmarkt-Reportage verfügt über kritisches Potenzial. Zugegeben, es wird nur sehr selten abgerufen. Aber es wäre doch denkbar, dass eine Schreibkraft das Spiegelkabinett auf dem Freimarkt als verwirrend beschreibt, oder die Geisterbahn schrecklich und die Achterbahn zum Kotzen findet – also meinungsbildend wirkt. Beim Public-Viewing geht das nicht: Bei dem spielt subjektives Erleben keine Rolle. Da geht’s um kollektiven Konsum: Public-Viewing ist eine Form ohne eigenen Inhalt. Sein Publikum ist passiv. Es glotzt TV, so wie Millionen Menschen das täglich halt tun, bloß im Stehen und im Freien. Das ist genauso erlaubt wie Sonnenbaden und auch genauso relevant: Unbedarfte TeilnehmerInnen seien „abends am roten Nacken und dem leichten bis mittelschweren Sonnenbrand erkennbar“ gewesen, „erfahrenere“ hätten „Sonnenmilch und Kappen“ benutzt – informierte gestern der Aufmacher des Weser-Kuriers.

Der ist nicht schlimmer als andere Lokalzeitungen, derselbe Quark findet sich in der Nordwest- oder in der Ostfriesen-Zeitung und allüberall: Diese Geschichten sind keine Ausrutscher. Sie sind geplant. Und als bewusst konzipierte Texte verraten sie, dass verantwortliche Redakteure ihre LeserInnen im tiefsten Herzen für vollendete Idioten halten. Das ist zynisch und gefährlich nicht nur für den Journalismus, der einmal ein Werkzeug der Aufklärung und Demokratisierung war. Aber der Erfolg gibt ihnen Recht. Vorausgesetzt, er stellt sich ein.