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Archiv-Artikel

Sie müssen den Kirchturm im Dorf lassen

FUSSBALL Jesus Navas kann nur in Sevilla spielen. Denn er leidet unter Heimweh. Das ist in der harten Branche eigentlich nicht vorgesehen

„Die Labilität von Fußballprofis darf man nicht unterschätzen“

ANDREAS MARLOVITS, PSYCHOLOGE

VON LORENZ VOSSEN

Jesus Navas wird heute dabei sein, wenn Spanien im Achtelfinale der Fußball-Weltmeisterschaft gegen Portugal spielt. Egal wie die Partie endet: Navas hat schon gesiegt. Es ist ein Sieg über sich selbst.

8.306 Kilometer Luftlinie sind es vom Stadion in Kapstadt bis zu Navas’ Heimatort Los Palacios y Villafranca in der Nähe von Sevilla. Noch vor einem Jahr konnte der 24-Jährige diese Strecke nicht bewältigen. Denn Navas leidet unter chronischem Heimweh. Fernab von Familie und vertrauter Umgebung befallen den Spieler des FC Sevilla Panikattacken. Er hat deshalb Angebote von anderen Vereinen immer abgelehnt. Dass Navas jetzt in Südafrika dabei ist, verdankt er der Hilfe seines Vereins. Ende 2009 verkündete er: „Ich glaube, dass ich jetzt weit genug bin, den Schritt zum Nationalteam zu machen.“

Es sind noch ein paar Wochen, ehe Deutschlands Fußballfans den Sportteil ihrer Tageszeitung aufschlagen und die Doppelseite mit den Transfers für die kommende Bundesligasaison studieren. Durchschnittlich 21 Spieler waren es in der Saison 2009/10, die neu zu einem Verein kamen oder ihn verließen. Von einem Klub zum nächsten zu ziehen gehört für Fußballer heute dazu, wie das Warmlaufen vor dem Training. Selten bleibt ein Spieler länger als drei oder vier Jahre bei einem Verein, oft wird er nur für ein paar Monate an einen anderen ausgeliehen. Und viel Zeit zum Eingewöhnen bleibt nicht, Leistungen müssen schnell her, das fordert das Geschäft. Heimweh, das zeigt der Fall Navas, ist dabei ein ungünstiger Begleiter.

Unter Profis ist die Problematik „ein großes Thema“, sagt Andreas Marlovits. Der Sportpsychologe, der Hannover 96 nach dem Tod von Torhüter Robert Enke betreute, hat in viele Fußballerseelen geblickt. „Die Spieler werden bereits in jungen Jahren aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen. Bei vielen entsteht dadurch ein Gefühl von Heimatlosigkeit“, sagt er. So komme es, dass viele bereits in jungen Jahren heiraten. „Die Spieler schaffen sich eine emotionale Heimat. Sie binden sich an einen Menschen, das gibt ihnen Halt.“ Die Mehrheit der Spieler gewöhne sich mit der Zeit an dieses Nomadentum. „Doch es gibt auch Karrieren, die daran zerbrochen sind“, sagt Marlovits.

Marco Gebhardts Karriere ist intakt verlaufen. Er spielte anfangs bei verschiedenen Vereinen in Sachsen-Anhalt. Danach ging es nach Verl, Frankfurt, Cottbus, München, Saarbrücken und schließlich nach Berlin zum 1. FC Union. In 20 Jahren kickte der Profi für neun Vereine. Ehefrau Dana war immer dabei, mit zwei Töchtern war die Familie Gebhardt schnell komplett. Heimatlos hat sich Gebhardt nie gefühlt. „Wenn man offen zu den Menschen ist, wird man schnell heimisch“, sagt er. Der 37-Jährige war bei seinen Vereinen oft Führungsspieler, er hat Neulingen geholfen sich zu integrieren. Gebhardt weiß: „Für manche Spieler ist es schwer, wenn sie den Kirchturm aus ihrer Stadt nicht mehr sehen können. Deswegen hängt viel davon ab, wie ein Spieler im neuen Umfeld zurechtkommt.“

Nahezu jeder Profiklub beschäftigt heute Personal, das sich um die Integration der Neuzugänge kümmert. „80 bis 90 Prozent der Spieler nehmen unsere Hilfe in Anspruch“, sagt Steffen Korell, Teammanager bei Borussia Mönchengladbach. Kommt ein Neuer, hilft Korell ihm bei der Wohnungssuche, organisiert Schul- oder Kitaplätze für die Kinder, kümmert sich bei den ausländischen Spielern um Deutschunterricht, zeigt wichtige Orte in der Stadt. „Es reicht oft schon, die richtige Telefonnummer parat zu haben. Wichtig ist, den Spielern zu signalisieren: Wir bieten euch die Möglichkeit an.“ Sportpsychologe Marlovits sagt: „Ein Fußballprofi ist nach außen immer erst mal der starke Mann. Wenn man ihm aber die Möglichkeit bietet, sich auszusprechen, nutzt er diese meistens. Die Labilität von vielen darf man nicht unterschätzen.“

Beim FC Sevilla halfen sie dem heimwehkranken Navas. Bei Auswärtsspielen fuhr der Bus bekannte Routen. Die Mannschaft übernachtete wenn möglich in den gleichen Hotels. Dank des starken Rückhalts der Fans, dank der Gespräche mit Trainern und einem Psychologen kann Navas jetzt das machen, was er am besten kann. So weit weg von zu Hause wie nie zuvor.

■  Lorenz Vossen, Bad Soden– Berlin