: Das Leben ist das nicht
POLITIK Das Nomadenleben der Bundestagsabgeordneten
KARIN REHBOCK-ZUREICH
VON SABRINA WAFFENSCHMIDT
Es ist Spätsommer und die Leute im Dorf sind in Plauderstimmung. Karin Rehbock-Zureich stellt sich in die Schlange am ersten Gemüsestand. Kaum taucht sie auf dem kleinen Jestetter Wochenmarkt nahe der Schweizer Grenze auf, hat sie die Aufmerksamkeit auf ihrer Seite und wird von allen herzlich begrüßt. An jedem Marktstand führt sie ein anderes Gespräch: Sind Sie in Berlin schon weiter mit dem Züricher Fluglärm, Frau Rehbock-Zureich? Werden Sie nächste Woche das Konzert des Männergesangvereins besuchen, Frau Rehbock-Zureich?
Karin Rehbock-Zureich ist Lokalpolitikerin und war von 1994 bis 2005 Bundestagsabgeordnete der SPD-Fraktion. Von Jestetten nach Bonn, nach Berlin, 2005 wieder zurück. „In Jestetten herausragend, in Berlin eine unter vielen. Das war einfach so“, erklärt Rehbock-Zureich heute. Mit diesem Kontrast steht sie nicht alleine da. Nur wenige Abgeordnete ziehen komplett in die Hauptstadt um. Meistens bleiben der Ehepartner, die Kinder und der Hund zu Hause, was die Politiker zum Pendeln und damit zu einem Leben mit zwei Gegenpolen zwingt. Auch Rehbock-Zureich musste erst lernen mit der Bekanntheit in der Heimat umzugehen: „Für manche Menschen scheint man auf einmal eine andere Person zu sein. Darüber habe ich mich immer gewundert“, sagt sie.
Der Gegensatz zwischen Landleben und dem Multikulti der Hauptstadt gefiel ihr von Anfang an, obwohl sie sich immer wieder den unterschiedlichen Geschwindigkeiten der beiden Orte anpassen musste. „Wenn ich nach einer Sitzungswoche in Berlin nach Jestetten zurückkehrte“, erzählt Rehbock-Zureich, „musste ich mein Tempo beim Gehen erst einmal wieder drosseln.“ Sie lebte während der Sitzungswochen am Hackeschen Markt im hektischen Berlin-Mitte nebst Galerien, Boutiquen und von Touristen besetzten Cafés.
Wie Rehbock-Zureich schwärmen die meisten Abgeordneten vom großen Kulturangebot Berlins. Doch wie viel Stadt bekommen sie überhaupt mit? Rehbock-Zureich bezeichnet sich selbst als Arbeitsnomadin: Sieben Uhr morgens aus dem Haus. Unterwegs einen Obstsalat in der Friedrichstraße besorgen. S-Bahn Richtung Bundestag nehmen. Abends gegen 23 Uhr zurück in die Wohnung. Freitag ab ins Flugzeug mit Kurs auf die Heimat. Einen Abend die Woche nimmt sie sich bewusst Zeit für ein bisschen Kultur. Meistens geht es in die Oper oder ins Theater. Die Woche darauf geht das gleiche Spiel von vorne los.
Auch Anette Kramme, 42 Jahre alt und SPD-Abgeordnete aus dem bayrischen Bayreuth, kennt das Problem: „Berlin ist eine fantastisch spannende Stadt, die liebenswert und anheimelnd ist. Während der regulären Sitzungswoche ist die Zeit aber so knapp, dass man es nicht einmal zum Einkaufen schafft.“
Mindestens die Hälfte des Jahres leben die Abgeordneten in einer Stadt, in der sie hauptsächlich funktionieren und trotzdem eine zweite Heimat finden wollen. Vielen gelingt das am ehesten in der Landesgruppe, wenn Kultur, Kulinarisches und der Dialekt aus der Heimat prägend sind. Die Partei wird zur Ersatzfamilie, das vertraute Bier ein Stück Zuhause.
Andere suchen sich den Teil Berlins heraus, der ihrer Heimat am nächsten kommt. So wie der 35-jährige Grünen-Abgeordnete Omid Nouripour, der mit 13 Jahren aus Teheran nach Deutschland kam und seine Jugend in Frankfurt am Main verbrachte: „Alle drei Orte sind ein Stück von mir, aber wenn ich in Frankfurt bin, dann weiß ich: Hier bin ich zu Hause“, sagt Nouripour. „Ein Stück Heimat finde ich an meinem Berliner Wohnort in Kreuzberg, denn Kreuzberg ist der Berliner Bezirk, der Frankfurt am ähnlichsten ist. Trotz der Nähe zum Regierungsviertel ist man hier in einer ganz anderen Lebenswelt.“
Doch die Arbeit lässt selten los, und so gibt es noch jene, die ausschließlich dafür in Berlin sind und überhaupt keine zweite Heimat finden wollen. „Berlin ist groß und fremd“, erzählt Thomas Lutze, Mitglied der Linksfraktion. Dem 40-jährigen Saarländer fehlen in Berlin die gewohnte Umgebung und die Menschen, die er gerne hat. „Ich bin ausschließlich in Sitzungswochen in Berlin, und selbst dann kann es passieren, dass ich abends nach Hause ins Saarland fliege und morgens wieder zurückkomme“, sagt er.
Heimat, sagen sie alle, ist ein vertrauter Ort, an dem sie Familie und Freunde um sich haben. Für die meisten Abgeordneten ist das nicht Berlin. Viele lernen dieses Leben schätzen, andere belastet es, bereuen tut es keiner. „Die Tätigkeit als Abgeordnete in Berlin war eine der spannendsten überhaupt“, beurteilt Rehbock-Zureich, „man muss aber klar sehen: Das ist nicht das normale Leben.“
■ Sabrina Waffenschmidt, Jestetten–Berlin