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Archiv-Artikel

Absurde Debatte über die beste Todesspritze

Eine Flut von Klagen und neuere medizinische Erkenntnisse lösen in den USA eine Diskussion über die Zumutbarkeit der Hinrichtung per Giftcocktail aus. Geht es dabei um einen schmerzlosen Tod oder um die Seelenruhe der Zeugen?

WASHINGTON taz ■ Zum ersten Mal seit dreißig Jahren diskutieren Ärzte, Rechtsanwälte und Menschenrechtsaktivisten in den USA über die Zumutbarkeit der Hinrichtung durch die Giftspritze. Ausgelöst durch eine Flut juristischer Klagen, haben einige der 37 US-Bundesstaaten, die mit Giftspritze hinrichten, die Exekutionen einstweilen ausgesetzt, andere erwägen, sie abzuschaffen. Eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in der vorvergangenen Woche erleichtert es Todeskandidaten zudem, Klagen aufgrund der potenziell schmerzhaften Wirkung der Spritze einzureichen.

Anwälte sagen, dass die Giftspritzenexekution unnötig schmerzhaft und damit grausam und verfassungswidrig sei. Eine umstrittene Studie vom vergangenen Jahr an 49 Exekutierten hatte ergeben, dass rund die Hälfte zu niedrige Dosen Anästhetika in ihrem Blut aufwiesen, so dass anzunehmen sei, dass die Hingerichteten erhebliche Schmerzen empfunden hätten. Doch die Debatte, angefacht durch neue medizinische Möglichkeiten, nimmt mitunter merkwürdige Züge an.

US-Mediziner und Ärzte sagen, dass es ein Leichtes wäre, den gegenwärtig angewandten Giftcocktail zu ersetzen. Mit anderen Zutaten könnte heute ausgeschlossen werden, dass Todeskandidaten leiden müssen. Vor wenigen Monaten hatten Gefängnistechniker des Southern Ohio Gefängnisses in Lucasville rund 90 Minuten benötigt, um den wegen Mordes verurteilten Joseph Clark endgültig hinzurichten. Kritiker der Todesstrafe sagten daraufhin, es sei eine weitere Panne in einer landesweiten Serie von problematischen Exekutionen gewesen. „Das zeigt, dass die Giftspritze dringend von einer moderneren Variante der Hinrichtung abgelöst werden muss, genau wie der elektrische Stuhl obsolet wurde“, meint Eric Freedman, Juraprofessor an der Hofstra Universität.

Selbst Jay Chapman, der Pathologe, der die gegenwärtig in den USA eingesetzte Giftmischung 1977 als Alternative zum elektrischen Stuhl in Oklahoma festlegte, hat bereits öffentlich erklärt, dass er mit dem heutigen Kenntnisstand eine andere Rezeptur verwenden würde.

Die aktuelle, innerhalb weniger Minuten wirksame Injektion besteht aus einer Überdosis Barbituraten, ergänzt mit Sodium Thiopental, das zu Bewusstseinsverlust führt und in ausreichender Konzentration die Atmung lähmt. Dann folgen muskellähmendes Pavulon und Potassium-Chlorid, die das Herz innerhalb von Sekunden zum Stillstand bringen. Beide Substanzen können jedoch erhebliche Schmerzen verursachen, besonders dann, wenn die ersten beiden Stoffe zu niedrig dosiert waren. Todeskandidaten wirkten dann aufgrund der muskellähmenden Mittel friedlich, seien unfähig zu kommunizieren und empfänden in Wirklichkeit aber rasenden Schmerz, sagen Kritiker. Die Substanzen würden meist unprofessionell verabreicht, weil Ärzte und medizinisches Personal sich mehrheitlich weigern, an Hinrichtungen teilzunehmen.

Würden die einzelnen Bundesstaaten das Injektionsprotokoll verändern, entzögen sie einem Großteil der eingereichten Klagen den Boden. Bislang aber hat keiner der 37 Bundesstaaten diesen Schritt unternommen. Im Kern der Debatte ist nämlich noch unentschieden, um was es in dieser Frage eigentlich geht: Um die Schmerzlosigkeit der Todeskandidaten – oder die Seelenruhe der Zeugen, die ihnen beim Sterben zusehen. Denn alternative Substanzen, obwohl sie die Hinzurichtenden mit Sicherheit schmerzfrei machen könnten, sind für Exekuteure und Zeugen eine größere Zumutung: Der Tod würde später eintreten und mit ziemlicher Gewissheit zuvor Konvulsionen auslösen, die der Sterbende zwar nicht mehr spürt, aber eine optische Herausforderung sind.

„Politiker haben in der Vergangenheit stets die Bedürfnisse der Zeugen berücksichtigt,“ sagt Mark Dershwitz, Professor für Anästhesie an der Universität von Massachusetts, der in Anhörungen zum Thema ausgesagt hat. Doch habe die Betonung auf einem schnellen Tod stets verhindert, dass Staaten alle Optionen geprüft hätten. Die alleinige Verabreichung von Barbituraten, sagt Dershwitz, ließe Gefangene schnell das Bewusstsein und die Fähigkeit zu atmen verlieren. Allerdings könnte sich der Eintritt des Gehirntods in einigen Fällen bis zu 45 Minuten verzögern.

Der US-Bundesstaat Kalifornien wird einer der ersten sein, der infolge einer Klage sein Todesspritzenprotokoll einer Revision unterziehen muss. Im Februar hatte der wegen Mordes zum Tode verurteilte Michael Morales vor einem Bundesgericht Aufschub für seine Hinrichtung erwirkt. Im kommenden September soll ein anderes Bundesgericht nun entscheiden, wie mit der ausgesetzten Hinrichtung zu verfahren sei.

ADRIENNE WOLTERSDORF