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Archiv-Artikel

nebensachen aus stockholm Tausch-Piraterie löst US-Boykottdrohung aus

„Die hat vor allem interessiert, wie man alte Schlager im Internet findet und auf die Festplatte laden kann.“ Im Rahmen einer Projektarbeit am Gymnasium versucht mein Sohn derzeit zusammen mit drei anderen Klassenkameraden AltenheimbewohnerInnen an mehreren Mittwochnachmittagen die Grundbegriffe der Computer- und Internetbenutzung beizubringen. E-Mails, Internetrecherche, Zeitungen lesen – auf alle erdenklichen Fragen hatte sich die Gruppe vorbereitet. Und dann das. „Aber ihr habt ihnen doch nicht etwa gezeigt, wie man illegal Musik herunterlädt“, frage ich mit schwacher Hoffnung. – „Na klar, was denn sonst. Wir haben auf den Rechnern auch gleich die passende Software installiert“, gibt mein Sohn unumwunden zu.

Das Unrechtsbewusstsein beim Thema Filesharing tendiert wirklich gegen null. Nach einer aktuellen Umfrage hat das noch relativ junge Filesharing-Verbot eine Akzeptanz bei allenfalls einem Drittel der Bevölkerung. Jeder zweite Schwede verstößt regelmäßig dagegen. In der Altersklasse der 18- bis 24-Jährigen sind es 90 Prozent. Und nun auch noch die SeniorInnen. Alter Schwede!

Filesharing, das Anzapfen des Internets nach Musik und Filmen und das Speichern auf der eigenen Festplatte, hat sich drei Monate vor den Parlamentswahlen zum heißen politischen Thema entwickelt. „Das könnte wahlentscheidend werden“, orakelt gar der Soziologe Peter Esaisson. Begonnen hatte alles im vergangenen Jahr, als die Regierung in Stockholm den Reichstag einen Gesetzentwurf verabschieden ließ, der das bis dahin straffreie Herunterladen urheberrechtlich geschützten Materials aus dem Internet unter Strafe stellt – obwohl die Polizei von vornherein klar gemacht hatte, dass sie keinerlei Ressourcen für eine Strafverfolgung 17-Jähriger verschwenden wolle, die sich da ihre Musiksammlung ergänzten. Und so verpuffte das Gesetz bislang recht wirkungslos.

Doch derzeit kann man ein ganz besonderes Schauspiel verfolgen: Die meisten Parteien wollen sich nämlich schon wenige Monate später angeblich gar nicht mehr erinnern können, warum sie diesen dummen Paragrafen eigentlich fast einmütig beschlossen hatten.

Diese Erkenntnis ereilte sie ausgerechnet, als die Staatsanwaltschaft den Filesharing-Paragrafen erstmals tatsächlich anwenden wollte. Am 31. Mai veranstalteten die Ermittler eine Razzia gegen den weltweit größten Knotenpunkt des derzeit populärsten Filesharing-Netzwerks, den auf einem Server in Göteborg beheimatete „The Pirate Bay“. Unter www.thepiratebay.org findet die Internetgemeinschaft die begehrtesten Linkadressen zu Musik und Filmen, die sich aus dem Cyberspace auf den eigenen Rechner herunterladen lassen. Eine Art Download-Google für die Millionengemeinde der Tauschpiraten.

Die Polizeiaktion war nicht nur ein Schuss in den Ofen: Pirate Bay ist längst wieder vollständig funktionsfähig im Netz. Der Schuss ging auch noch nach hinten los: Der Proteststurm, den diese Durchsuchung auslöste – hinter der, wie sich mittlerweile herausstellte, Drohungen aus Washington standen, einen Handelsboykott gegen Schweden zu verhängen –, hatte den um die WählerInnengunst buhlenden Parteien urplötzlich die Brisanz des Themas klar gemacht. Und dieses heikle Thema kann man natürlich keinesfalls allein den „Grünen“, die von vornherein gegen die Kriminalisierung des „Filesharing“ gestimmt hatten, sowie einer eigens gegründeten und in Rekordzeit wachsenden „Piratenpartei“ überlassen. Daher versuchen sich die Sozialdemokraten, die Konservativen und die Liberalen nun im Ideenreichtum gegenseitig zu übertreffen, wie man ihr eigenes ungeliebtes Gesetz, das einen populären Massenfreizeitspaß unter Strafe stellt, kippen kann.

Die Moral: Gesetzesbruch lohnt sich. Weigert sich nur ein genügend großer Teil der Bevölkerung, ein Verbot zu akzeptieren, und übertritt es tagtäglich, werden PolitikerInnen irgendwann weich. Ist auch noch Wahljahr, brechen die Dämme in Rekordzeit. REINHARD WOLFF