: Die Gärten von damals
ON LOCATION Die Hannoveraner Kestnergesellschaft zeigt unter dem Titel „Katherine Avenue“ eine Retrospektive des unlängst verstorbenen amerikanischen Fotografen Larry Sultan
VON MAIK SCHLÜTER
Im San Fernando Valley, nordwestlich von Los Angeles gelegen, werden Jahr für Jahr unzählige Pornofilme produziert. Häufig mieten sich die Filmteams in Privathäusern ein und drehen „on location“. Der amerikanische Fotograf Larry Sultan schaffte es in seiner Arbeit „The Valley“ (1998–2003), der visuellen Eindeutigkeit von industriell vermarktetem Sex ein komplexes fotografisches Gegenstück entgegenzustellen. Er zeigt selten explizite Sexszenen. Sein Blick konzentriert sich vielmehr auf die Akteure in den Drehpausen, auf die Interieurs und die spezifische Inszenierung. Und er verlagert durch präzise Anschnitte die Perspektive auf das Geschehen in die Vorstellungswelt des Betrachters.
Obszöne Note
Plötzlich ist alles sexuell kontaminiert und bekommt eine obszöne Note: Vorhänge, Kissen, Wandverkleidungen oder Blumenarrangements. Sultan zeigt auch die Erschöpfung der Darsteller und die Abgeklärtheit der Techniker. Für sie ist die Illusion vom Dauerorgasmus anstrengende und häufig stupide Arbeit: Pornografie und Alltag.
Aber Larry Sultan macht keine Sozialreportage. Denn im begleitenden Text verweist er auf seine biografischen Wurzeln und spricht davon, wie er als Kind jene Viertel im San Fernando Valley erkundete, wo heute in Privatvillen Pornos gedreht werden. Er musste im Garten der Eltern Unkraut jäten, während in den gepflegten Gartenanlagen der Siedlungshäuser heute Sexorgien aufwändig inszeniert werden. Sultan bringt die emotionale Ambivalenz auf den Punkt: „Während ich das fotografiere, gerate ich in das Zentrum meiner eigenen Widersprüche – es öffnet sich ein weites Feld zwischen Abscheu und Anziehung, Lust und Verlust. Ich bin wieder zu Hause.“
Die Grenzen zwischen Fiktion und Faktizität verschwimmen. Sultan schafft vor allem Bilder, die man visuell durchkreuzen muss, um die Verbindungslinien innerhalb der verschiedenen Serien zu entdecken. So ist auch die aktuelle Ausstellung in der Hannoveraner Kestnergesellschaft konzipiert: Die Suburbs der Mittelschicht waren ein beständiger Ausgangspunkt für die Reflexionen des Fotografen. Larry Sultan, der unlängst im Alter von nur 63 Jahren verstarb, hat die Konzeption für die Ausstellung mit entwickelt. In Hannover werden noch „Pictures from Home“, ein Langzeitprojekt (1984–1992), und eine unvollendet gebliebene Serie mit dem Titel „Homeland“ (2006–2009) gezeigt.
„Pictures from Home“ ist eine Konfrontation mit Kindheit und Elternhaus. Eine Arbeit, die analytisch und suggestiv ist, angesiedelt zwischen Fotoessay, Reportage, Homestory, Psychoanalyse und Biopic. Immer wieder besuchte Larry Sultan seine Eltern und unternahm den Versuch eines Familienporträts. Die Bilder zeigen zwar intime Details, wirken aber nie kompromittierend, sondern nur sehr präzise inszeniert. Die Beziehung zwischen Eltern und Sohn erscheint in Einzelbilder eingefroren. Man erfährt mehr über Larry Sultan selbst als über die Eltern. Es werden auch Filmstills aus Super-8-Aufnahmen der Familie gezeigt: Stereotype des Verhaltens.
Tagelöhner posieren
Auch seine letzte Arbeit, „Homeland“, bewegt sich zwischen Inszenierung und Dokument. Mittelamerikanische Tagelöhner wurden von ihm engagiert, um in den stillen Bildern zu posieren. Wieder wählte er Orte seiner Kindheit: einen Flusslauf, Wiesen hinter Häusern, Randgebiete des suburbanen Gefüges. Sultan geht es nicht um eine Anklage im Namen der Migranten. Er reflektiert vielmehr den Status seiner Erinnerungen, den sozialen Wandel in einem ihm bekannten Umfeld und die repräsentativen Qualitäten der Fotografie.
Die Bilder haben nichts Appellatives. Sie sind Meditationen über die Verschiebung von Bedeutungsebenen und über die Mechanismen von sozialer Teilhabe. Die Verbindung von privaten und politischen Inhalten, wie sie in „Homeland“ vorkommt, ist kennzeichnend für seine Arbeitsweise. Larry Sultan spielt für das Verständnis zeitgenössischer Fotografie eine zentrale Rolle. Er hat dem Fotografiediskurs zwischen Dokument und Inszenierung, konkreter Erzählung und konzeptueller Abstraktion wesentliche Impulse verliehen. Gehörte er doch zu einer Generation von Künstlern, die das Medium gleichermaßen konzeptuell und dokumentarisch definierten. Larry Sultan verzichtete auf jeden autokratischen Gestus von Welterklärung und interpretierte seine Autorenschaft stets als Verstrickung. In diesem Sinne war er Erzähler und Akteur und vermischte gekonnt Distanz und Intuition. Vor allem aber war er ein sehr, sehr guter Fotograf.
■ Bis 22. August in der Kestnergesellschaft in Hannover