piwik no script img

„Wir sind keine Inder und Kulis“

Vor 60 Jahren fand auf dem Hamburger Rathausmarkt die erste Demonstration gegen die britische Besatzungsmacht statt. Die Oberschicht vom Rothenbaum wollte ihre Wohnungen nicht hergeben

Die Menschen randalierten: „Gott strafe England! Ist das die Demokratie? Ist das die Befreiung?“

Von Bernhard Röhl

Im Juni 1946 hieß der Platz vor dem Hamburger Rathaus wieder Rathausmarkt, die Schilder mit der Aufschrift „Adolf-Hitler-Platz“ waren verschwunden. In vielen Köpfen lagerte jedoch weiterhin der braune Müll und die Zahl „88“ bedeutete „Heil Hitler“. Die Hälfte des Wohnraums lag in Trümmern, aber die feudalen Stadtteile Harvestehude und Rothenbaum blieben bei den Luftangriffen fast unzerstört. Gerüchte noch zu Kriegszeiten behaupteten, die Besatzungstruppen wollten im Falle eines Sieges hier Quartier beziehen.

Die britische Besatzungsmacht plante im Juni 1946, das Hauptquartier der Kontrollkomission für Deutschland nach Hamburg zu verlegen. Um dieses Vorhaben zu realisieren, sollten circa 40.000 Personen aus den Wohnungen westlich und nördlich der Außenalster ausquartiert werden. Am Donnerstag, dem 27. Juni 1946, sollte eine Delegation von sechs Frauen – eine von ihnen war die Frau eines Arztes, der wegen seiner Nazi-Aktivitäten suspendiert war – dem von den Briten eingesetzten Bürgermeister Rudolf Petersen ihren Protest gegen die Räumung der Wohnungen unterbreiten.

Petersen sprach mit den Frauen aus Harvestehude und schickte sie zu einem Offizier der Militärregierung. Bereits um zehn Uhr hatte sich eine Menschenmenge vor dem Rathaus versammelt. Als der Bürgermeister auf den Mittelbalkon des Gebäudes trat, um diese Mitteilung zu verkünden, ertönten Zwischenrufe aus der Menge. Der Redner wurde am Sprechen gehindert.

Die Menschen auf dem Platz begannen zu randalieren: „Petersen abtreten! Wir sind keine Inder und Kulis! Gott strafe England! Ist das die Demokratie? Ist das die Befreiung?“ Dreimal brüllten die Teilnehmer des Aufmarsches: „Deutschland, Deutschland über alles ...“ Auf den früher folgenden SA-Gesang „Die Fahne hoch!“ verzichteten die immer noch faschistisch Verseuchten allerdings.

Seit Anfang April 1946 erschienen in der Hafenstadt die von der britischen Militärregierung lizensierten vier Parteizeitungen. Alle berichteten über den Tumult auf dem Rathausmarkt. Das Hamburger Echo (SPD) kommentierte, dass keine Inder und Kulis hier demonstrierten, sondern wohl „zum großen Teil die alten Bewohner der Stadtteile Rothenbaum und Harvestehude“. Sie wählten einst überwiegend die Hitler-Partei.

Im Gegensatz zu den vielen Ausgebombten habe die „materielle Oberschicht der Hamburger Bevölkerung“ Wohnungen und Besitz nicht verloren, meinte die SPD-Zeitung. Diese Schicht habe nie gegen den Hitler-Krieg protestiert. „Es sind also die Ewig-Gestrigen, die auf dem Rathaus-Markt demonstrierten“, prangerte der Bericht weiter an.

Die Hamburger Volkszeitung (KPD) veröffentlichte einen längeren Beitrag unter der Überschrift „Frauen wollen Taten und Einigkeit“, in dem die Situation in Hamburg scharf verurteilt wurde: „Bei dem heutigen Stand der Entwicklung sehen die Frauen nur die sonderbare Entwicklung der Entnazifizierung in unserem Gebiet, bei der im Großen und Ganzen Reaktion und Nazitum fröhlich Urstände feiern und immer frecher zutage treten. Die Vorgänge in Planten und Blomen und bei der Demonstration vor dem Rathaus, an der ebenfalls viele Nazis beteiligt waren, zeigen es gar zu deutlich.“ Die Hamburger Freie Presse (FDP) berichtete in einem Leitartikel von einer „ernsten Warnung“ der Militärregierung an die Bevölkerung.

Demonstranten, die versucht hatten, das Rathaus zu stürmen, wurden von deutschen Polizisten und britischen Militärpolizisten festgenommen. Zwei Panzerspähwagen standen bereit, griffen aber nicht ein. Am 3. Juli 1946 verhandelte das mittlere Militärgericht gegen elf Demonstranten im Alter von 15 bis 33 Jahren wegen Aufhetzung und Beteiligung an einer öffentlichen Ruhestörung und Zusammenrottung. Besonders Jugendliche hätten immer wieder dazu aufgefordert, das „Deutschlandlied“ zu singen und durch laute Rufe zu protestieren. Das Gericht verhängte Gefängnisstrafen zwischen zwei bis fünf Jahren.

Die Hamburger Allgemeine Zeitung der CDU berichtete auch über das Urteil gegen die Krawallmacher, das auf dem Militärgerichtsgesetz Nr. 1 basierte. Erster „Hauptschriftleiter“ war Karl Silex, die erste Ausgabe erschien am 2. April 1945. Drei Wochen später flog er aus der Redaktion am Gänsemarkt 21/23 wieder hinaus. Die britische Zeitschrift The New Statesman enthüllte damals, welch fragwürdige Rolle Silex als Propagandist und Durchhalteschreiber unter dem Hitler-Regime gespielt hatte. Im Unterhaus unterstrich die britische Regierung auf eine Anfrage hin, bei der Berufung von Silex habe es sich um einen „bedauerlichen Missgriff“ gehandelt.

Silex, der seinen Eid auf den von ihm gefeierten „Führer“ überlebte, gehörte später im Berliner Tagesspiegel zu den Propagandisten des Kalten Krieges.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen