Rührseligkeit, nein danke

Schriften zu Zeitschriften: Die aktuelle Ausgabe von „Mittelweg 36“ hinterfragt den Trend der Tätertöchter und spricht mit dem Politikwissenschaftler Tom Lampert. Gezogen wird eine durchaus kritische Bilanz des Erinnerungsdiskurses

Wertende Adjektive in Zeitungsberichten und wissenschaftlichen Texten können einem bei der Lektüre manchmal ganz schön aufs Gemüt schlagen. Wenn es sich inhaltlich dabei auch noch um die deutsche Nazi-Vergangenheit dreht, kann dieser eigentlich bloß formale Mangel an stilistischem Feingefühl sogar urplötzliches Ressentiment gegen die Verfasser freisetzen. Aber woran liegt das bloß? Fühlt man sich als Leser und Adressat etwa nicht ausreichend in seiner eigenen moralischen Urteilskraft gewürdigt?

Um solche Feinheiten der Dosierung und des Austausches moralischer Haltungen geht es auch in der neuen Ausgabe des Mittelwegs 36 (3/2006). Die Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung versucht sich an einer neuerlichen kritischen Bilanz des bundesrepublikanischen Erinnerungsdiskurses. Die Autoren der zentralen Beiträge widmen sich vor allem der Frage, ob und wie ein kollektives deutsches Erinnern jenseits einer medial überstrapazierten Wirkungsästhetik von Furcht, Mitleid und Katharsis oder einer sonstigen Indienstnahme der Rationalität moralischer Empfindungen möglich sein könnte.

Der amerikanische Politikwissenschaftler Tom Lampert, hierzulande durch sein Buch „Ein einziges Leben. Acht Geschichten aus dem Krieg“ bekannt geworden, spricht im Interview mit Heinz Bude und Thomas Medicus von seiner Skepsis gegenüber dem Gebrauch von Adjektiven: „Das sind Pfeile, die darauf hinweisen, dass dieses oder jenes schrecklich oder nicht schrecklich, der und jener ein böser oder kein böser Mensch war. In diesem Sinn sind Adjektive eine Form von Kommentar, die meistens überflüssig ist und einfach weggelassen werden sollte.“

Lampert vermutet, „dass man als Deutscher immer klar sagen will, ich gehöre nicht zu denen. Ich stehe auf der anderen Seite, ich bin jemand, der dagegen ist.“ Dies entlaste Autor und Leser zugleich, weil das Böse damit in ein moralisches Jenseits verschoben werden könne. Das Böse als das andere zu denken, hält Lampert allerdings für eine Form von Theologie, die ihrerseits bloß Ressentiments freisetze. Der historischen Erkenntnis förderlicher wäre es daher, nicht nur die Perspektive der Opfer, sondern auch die der Täter einzunehmen.

Das Erwecken von Schuldgefühlen oder Abscheu hält Lampert dagegen für kontraproduktiv: „Ich stehe rührenden Erinnerungen sehr skeptisch gegenüber. Häufig haben sie etwas Manipulatives an sich: Die Katharsis ist eher künstlich, instrumental. Es erinnert ein bisschen an die Szene aus der ‚Blechtrommel‘, wie Zwiebeln geschnitten werden, damit man weinen kann.“ Eine distanzierte Schreibweise eröffne den Lesern dagegen gedankliche Freiräume, über das Geschehene, das Erzählte nachzudenken. Es gebe in dieser Welt eben keinen direkten Zugriff auf die Wahrheit: „Vielleicht ist es diese Unzugänglichkeit des rein Begrifflichen gewesen, die mich immer weiter vorangetrieben hat. Irgendwann kam mir herkömmliche Theorie – auch im Sinne von Adorno – etwas leer vor, es fehlte der Widerstand der Dinge, des empirischen Lebens.“

Wie man diese Erkenntnisse in der Praxis exekutiert, zeigt der Journalist Thomas Medicus in seinem Beitrag über den gegenwärtigen Boom der Familienromane, wie sie in jüngster Zeit vor allem von sogenannten Tätertöchtern verfasst wurden. Zuerst muss man diesen Trend für beendet erklären: „Die Irreversibilität des Übergangs von der Erinnerung zur Geschichte macht die Familienromane zu Scheingefechten. Es handelt sich bei ihnen um signifikante Übergangsphänomene von allerdings nur temporärer Bedeutung.“ Anschließend muss man die alte, gefühlige Moral durch eine neue, empirisch sachgerechtere ersetzen. So ist es für Medicus an der Zeit, „anstelle emotionaler Überwältigung durch unentrinnbare Schicksale der Kontingenz geschichtlicher Konstellationen zu ihrem Recht zu verhelfen“.

Man könnte auch sagen: Jede Gegenwart schafft sich eben solche historischen Problematisierungsebenen, die ihren selbstlegitimatorischen Zwecken am besten dienen. Wie soll man sich also mit den Verbrechen des „Dritten Reichs“ beschäftigen und sich gegen moralisch verstörende Möglichkeitsräume immunisieren, ohne dabei unerwünschte moralische Selbstaufwertung, sprich: Theologie zu betreiben? Ganz einfach: Man schluckt die Kröte, dass entpolitisierte biografische Kontingenzerfahrung mittlerweile offenbar ein höheres Identifikationspotential zu stiften vermag als Täter- und Opferkonstellationen. Der notwendigen Selbstreferentialität des eigenen Vergangenheitsbezuges wird man ohnehin nicht entkommen. Warum sollte man auch? JAN-HENDRIK WULF

Mittelweg 36, 3/2006, 9,50 Euro