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Archiv-Artikel

Das globale Dorf

AUS TRINWILLERSHAGEN THOMAS GERLACH

Trinwillershagen hat zwar keinen Kirchturm, dessen Spitze in den pommerschen Himmel ragt, zu verfehlen ist das Dorf auf halbem Wege zwischen Rostock und Stralsund trotzdem nicht. Am Boden sowieso nicht. Und aus der Luft auch nicht, denn im neuen Windpark hinterm Dorf wirbeln mehr als ein Dutzend Rotoren. Sie werden den Hubschrauber des amerikanischen Präsidenten herbeiwinken, der diesen Sommer Trinwillershagen besuchen soll. Das letzte Wort ist zwar noch nicht gesprochen, denn das Weiße Haus redet mit und wird fragen, ob sich im 900-Seelen-Dorf auch kein Schurke versteckt hält, der das Barbecue stören könnte, das Gastwirt Olaf Micheel für George Bush veranstalten wird.

Aber wer sollte in Trinwillershagen Böses im Schilde führen? Olaf Micheel steht forsch wie ein Junker auf den Stufen des Kulturhauses „Zu den Linden“ und fixiert einen Punkt am Himmel, wo ein Hubschrauber der Bundespolizei schon eine halbe Ewigkeit kreist. „So geht das seit Tagen. Gestern haben Taucher den Teich durchsucht.“ Micheel klingt sehr zufrieden und weist auf einen Tümpel, in dem Entengrütze schimmert. Für den Nachmittag hat sich das Bundespresseamt angekündigt.

Hubschrauber, Taucher, Besuch aus Berlin – der Rummel ist nur Vorbote: Korrespondenten werden aufkreuzen, Personenschützer, Sekretäre, Subalterne – so wie im letzten Sommer, als hier die Mitgliederversammlung des CDU- Kreisverbandes Nordvorpommern stattfand. Nur viel, viel mehr.

Die CDU war zwangsläufig auf Trinwillershagen gestoßen, weil das Kulturhaus weit und breit über den größten Saal verfügt. Damals wurde Angela Merkel hier gefeiert, als wäre sie schon die neue Kanzlerin, und mit über 99 Prozent der Stimmen für die Bundestagswahl nominiert. Olaf Micheel hat anschließend Wildschwein und Reh vom Spieß aufgetischt. Man erzählt sich noch heute, dass Angela Merkel diesen Abend sehr genossen hat.

Der Rummel ist nur Vorbote

Da, wo sich vor einem Jahr das Wildschwein drehte, versichert Micheel, dass die bröckelnden Betonplatten gegen Formsteine ausgetauscht werden, er blickt zum Gerüst, wo Handwerker den Putz ausbessern und die Wand streichen. Es gibt Dinge, die sind einzigartig. Auch wenn Trinwillershagen schon manches erlebt hat: Walter Ulbricht war zweimal hier, Egon Krenz besuchte die Genossenschaft, und sogar Abba hat im Kulturhaus gespielt.

Der Gastwirt, der in den ehemaligen Büros der LPG „Rotes Banner“ eine Pension betreibt, ist Angela Merkel bei ihren zwei Besuchen aufgefallen – jung, zupackend und in der richtigen Partei, in ihrer Partei. Solche Männer braucht das Land. Olaf Micheel, 37, fegt den riesigen Saal, in dem der Geruch endloser LPG-Versammlungen, SED-Aktivtagungen und Kreisparteitagen der CDU wie Würze an den Wänden klebt.

Micheel läuft vorbei an der stattlichen Kollektion von Rehgehörnen, Hirschgeweihen und Wildschweinfellen, klappert mit dem Schlüsselbund, springt auf die Bühne und zieht wie ein Duftbäumchen süßliches Parfüm hinter sich her. Hier im Saal, in den das ganze Dorf hineinpasst, lasse er zum Fasching sogar einen Trabant durch die Reihen fahren, erzählt er und verschwindet im Büro.

Siegfried Kell war auch mal so dynamisch. Als Ausbilder der LPG „Rotes Banner“ hat er vor 50 Jahren mit seinen Lehrlingen ein Modell von Trinwillershagen gebastelt – keine Großbauernhöfe, keine Kirche und kein Schloss, dafür hübsche kleine Wirtschaften, lange LPG-Ställe und moderne Gewächshäuser. So werde das Dorf einmal aussehen, „wenn es uns gelingt, den Frieden zu erhalten und unser Vaterland in eine lichte Zukunft, in den Sozialismus zu führen“, schrieb Kell im FDJ-Organ Junge Welt.

Siegfried Kell ist Jahrgang 1931, ein rüstiger Gartenarbeiter, der aber die hundert Meter zur Schule doch lieber mit dem Auto fährt. Dort ist das „Traditionszimmer“ eingerichtet – ein Heimatmuseum mit Schwerpunkt DDR. Kell ist Ortschronist, vor allem aber war er 16 Jahre lang SED-Bürgermeister – und das sehr erfolgreich.

Ganz Trinwillershagen war ein Erfolg. Hier schien der Sozialismus verwirklicht, im Traditionszimmer kann man ihn sehen – auf Wanderfahnen und Urkunden, auf Fotos von Sonderschichten, in Rechenschaftsberichten und Zeitungsartikeln, und alle tragen einen Namen: „Rotes Banner“.

Kell, im Seniorenlook mit weitem Hemd und Jeans, präsentiert die Sammlung, schreitet in der Zeit voran, bleibt im Jahr 1969 stehen und erzählt, wie sie zum 20. Jahrestag der DDR Platz gemacht haben für Kulturhaus und Saal. Man habe Stahltrossen um das Gutshaus gelegt und die stärksten Traktoren geholt. Die haben es dann gevierteilt. Das Kulturhaus wurde in fünf Monaten hochgezogen. Da lag Olaf Micheel im Nachbarort noch in den Windeln.

Siegfried Kell könnte man mit verbundenen Augen herumführen, er würde jedes Bierglas, jedes Zuchtbuch und das „Logbuch der guten Taten“ wieder finden. Das Modell des Patenschiffs „Trinwillershagen“ sowieso, das die Kunde vom Musterdorf von Leningrad bis Rotterdam getragen hat. Nur das Dorfmodell ist zerfallen wie der ganze Sozialismus. Die LPG ging 1990 in Liquidation, und der einstige LPG-Sportverein hieß von nun an „Rot-Weiß“ – die Ära des „Roten Banner“ war vorbei.

Ausgemustertes Musterdorf

Siegfried Kell bittet zum Schluss um einen Eintrag ins Gästebuch. Könnte sich demnächst auch George Bush hier verewigen? Kell winkt ab. Um dem Präsidenten dennoch die Dorfgeschichte nahe zu bringen, hat der jetzige Bürgermeister ein in Leder gebundenes Exemplar der von Kell verfassten Chronik bestellt. Wird er dabei sein, wenn es Bush überreicht wird? Erpicht darauf scheint Siegfried Kell nicht zu sein. Er hat seine Staatsbesuche hinter sich, die „lichte Zukunft“ ist Geschichte. Nun bringt Kell Menschen anständig ins Grab. Er tritt als Trauerredner auf.

„Es geht darum, dass der Mensch einen Lebenssinn, ein Lebensziel hat“ – so beschreibt Volker Straube seinen Auftrag. Er ist der Pfarrer der Evangelisch-methodistischen Gemeinde, ein Sachse aus dem Erzgebirge, weißes Haar und weißer Bart, der vor zehn Jahren in den Norden kam. Trinwillershagen ist nach den „Rotbanner“-Jahren Missionsgebiet. Die Methodisten kauften daher aus der Konkursmasse der LPG den „Pavillon“, jenen Rundbau im Grünen, der 1959 für die Thälmann-Pioniere errichtet worden war. Die Vision: Der Pavillon soll ein „Brückenkopf der Liebe Jesu Christi“ werden. Hier begann die „sozial-missionarische Arbeit“ mit Spenden und vielen ABM-Kräften.

Doch je länger Volker Straube durch den Pavillon führt, desto klarer wird, dass die Saat nur spärlich aufgegangen ist. Als hätte Lotte Ulbricht persönlich einen Bann verhängt, als sie hier einst vom Balkon grüßte. Die ABM-Stellen sind gestrichen, der Spendenfluss ist dünner geworden, und neulich gab es am Haus satanistisches Geschmiere. Ob Bush den Zauber lösen kann?

Nach seiner Trunksucht als geläuterter Christ zu den Methodisten gewechselt, dürfte sich Bush im Pavillon wohl fühlen – Brausekisten, ein Aquarium, kein Tropfen Alkohol. Doch offizieller Programmpunkt wird das Häuschen vermutlich nicht.

Volker Straube erzählt, dass seine Kirchenleitung das Kanzleramt über die Existenz der Methodistengemeinde informiert habe. Sein Pastorenkollege bemüht sich außerdem, am großen Tag die Methodisten-Fahne mit Flamme und Kreuz über dem Pavillon zu hissen. Doch Straube will zum Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte – Methodist hin oder her – auf Abstand bleiben, er betont: „Wir haben als Kirche klar Stellung bezogen gegen seine Kriegspolitik!“

Zweifel mögen christlich sein, Olaf Micheel sind sie fremd: „Das ist das Event, das ist – ich weiß gar nicht, wie ich das bezeichnen soll! Das wird in tausend Jahren nicht wieder passieren: Der mächtigste Mann der Welt!“ Es ist eher selten, dass Micheel nach Worten sucht. Am Nachmittag hatte er die junge Dame vom Bundespresseamt wie ein Burgfräulein über das ehemals sozialistische Anwesen geführt. Sie hat ein paar Fotos geschossen, Kaffee getrunken, Zurückhaltung empfohlen und ist wieder abgereist – mit ihren Notizen im Block.

Am Abend klappt Micheel das Gästebuch auf, als würde er ein Testament eröffnen. „Herzlichen Dank für den unvergesslichen Abend im Kulturhaus Trinwillershagen. Alles Gute Olaf Micheel und seiner Mannschaft“, hat Angela Merkel geschrieben.

Und versprochen: Herr Micheel, wir sehen uns wieder. Wie könnte man da schweigen? Trinwillershagen feiert Auferstehung, und der Mann, der seit Jahren daran mitgearbeitet hat, soll still in der Ecke sitzen? Andererseits: Ist nicht jedes Wort eins zu viel? Ist nicht Diskretion die Sprache der Diplomaten? „Ich sag nichts“, hatte ihn die Ostseezeitung zitiert. „Das wird eine kleine private Veranstaltung“, sagt er nun knapp.

Wer die Zeitungen der Nachwende-Jahre liest, hat den Eindruck, dass Trinwillershagen über Nacht depressiv geworden ist. Das ist passé. Einer der Therapeuten war Olaf Micheel. Er hat Fips Asmussen, Jürgen Drews und die Goombay Dance Band geholt. Das hat besser gewirkt als jeder Gottesdienst im Pavillon. Die Felder grünen auch ohne LPG, der Wind treibt die Generatoren an, und mitten im Sommer ist Bescherung. Bald wird das Schwein fürs Barbecue erlegt.

Micheel ist vor einiger Zeit unter die Jäger gegangen. Es gebe eben drei Triebe, informiert er unter dem zentnerschweren Leuchter aus Hirschgeweihen, der in seinem Imbissraum hängt: „Der Jagdtrieb, der Sexualtrieb und der Sammeltrieb.“ Micheel blickt zum Tisch, wo zwei Arbeiter sitzen, die Gesichter zerfurcht. „Einen Trieb muss der Mensch ja haben!“, sagt er und lacht. Die beiden kauen schweigend weiter. Kein Zweifel, Olaf Micheel verfügt über alle drei.

Wenn der Jahrtausendbesuch vorüber ist, startet Micheel ein neues Projekt: In den restlichen Büros vom „Roten Banner“ will er betreutes Wohnen anbieten. Anmeldungen habe er schon. „Am Ulbricht-Merkel-Bush-Platz“ wäre gewiss eine klangvolle Adresse. Derzeit lautet sie noch: Hof 1.