: What good am I?
DAS SCHLAGLOCH von RENÉE ZUCKER
Schon in der Woche zuvor hätte es mir auffallen müssen. In dem Moment, da der erlösende deutsche Kollektivschrei nach dem Sieg über Polen von dauerhupenden Fahnenschwenkern unter 30 mit Migrationshintergrund abgelöst wurde, trat ich die Flucht aus dem leeren Laden am Ku’damm an und war so melancholisch wie einst als Kind beim Karneval: Wieso kann ich mich nicht auch so toll freuen?
Wie verklemmt ich wirklich bin, merkte ich aber erst richtig beim Spiel gegen Schweden. Leyla und ich waren zum Algerier gegangen, um auch mal in Gemeinschaft zu gucken. Dort saßen schon einige Geschäftsmänner mit dicken aufblasbaren Hämmern in Deutschlandfahnenfarben und hauten damit lustig auf die Theke, während entfesselte Wechseljährige mit rot gefärbtem Kurzhaarschnitt sich über ihre eigenen Anfeuerungsschreie vom Schlage „Kriegsten heute noch rein“ ausschütteten.
Leyla hätte wohl gerne mitgefeiert, traute sich aber angesichts meiner missbilligenden Miene nicht. Das tat mir sehr Leid, weil wir uns sonst zu Hause auf dem Sofa sehr wohl beim Fußball amüsieren können – allerdings lese ich gern dabei, schabe Möhren oder entsteine Aprikosen. Ich kann Massenanspannung pur nicht ertragen. Sie tut mir körperlich weh.
Leyla hingegen ist, wie alle Türken, von einer beneidenswert unschuldigen Fußballbegeisterung – und ebenso beneidenswert ist ihre ekstatische Fanbereitschaft. Vor jedem Spiel muss jeder, der mitguckt, sagen, für wen er ist. „Das geht doch nicht“, sagt sie, wenn mir die eine Mannschaft so gleichgültig wie die andere ist und ich achselzuckend beiden alles Gute wünsche. „Man muss zu jemandem halten.“ Mittlerweile haben wir uns darauf geeinigt, dass ich mich erst nach den Nationalhymnen entscheiden darf, wenn die Kamera die Gesichter abgefahren hat. Sie lässt alle Kriterien gelten. Hauptsache, ich bin für jemanden.
Ich muss aber hinzufügen, dass gesichtermäßig das Spiel Polen gegen Deutschland nicht wirklich etwas bot. Aber für Polen zu sein wäre albern gewesen – und ein bisschen so wie damals, als wir in der Osteria immer für die Italiener waren. Das ist übrigens mal ganz schön bei dieser WM: Man darf die Italiener gerade so doof finden, wie sie sind. Dafür randalieren die Holländer auch nicht mehr – zumindest nicht auf der Straße – und haben erkannt, dass jegliche bigotte Deutschenfeindlichkeit zu diesem Zeitpunkt kontraproduktiv wäre. Schließlich hatten sie ihre eigene Verrückung bei der Party mit der angeheirateten Argentinierin aus zweifelhaftem Haus.
Ansonsten bin ich allenfalls für den kettenrauchenden Trainer der Mexikaner, der wegen Rauchverbots am Spielfeldrand die Kiefer derartig fest zusammenbeißt, dass er bestimmt zu Hause sofort zum Zahnarzt muss; oder für den schönen tschechischen Karel mit den langen weißen Haaren – beide werde ich allerdings zukünftig nicht mehr sehen und mir neue Gesichter suchen müssen. Schon wegen Leyla. Neulich schickte sie nachts um 23.30 eine SMS: Der allersüßeste ist Deco. Ich weiß nicht, wie Deco aussieht, habe aber öfter das Bild der Bundeskanzlerin vor Augen, wie sie sich so süß bei dem Spiel gegen die Polen freute und dies ausgerechnet mit dem polnischen Staatschef teilen wollte und, als der tumb und dumpf nicht reagierte, sich einfach – und mindestens so unschuldig wie Leyla, an Theo Zwanziger ranwanzte. Den kenne ich, weil mir sein Name gefällt.
Wirklich starke Gefühle habe ich jedoch beim Klang der V-Ausschnitt- und Pullunder-Stimmen von Beckmann und Kerner. Ich muss den Ton wegdrücken und sofort als Antidot den sexistischsten Busta Rhymes hören, nur damit diese Sülze aus meiner Erinnerung abtropfen kann. Leyla hört so was gar nicht. Sie würde auch gar keinen Unterschied zu anderen Kommentatoren erkennen. Sie freut sich einfach am Fußballspiel, erklärt mir immer wieder das Abseits und seine Fallen und hält zu jemand.
Vermutlich haben wir diese neue internationale Begeisterung für die Deutschen – die zum allgemeinen Erstaunen nicht ständig „Jawoll, alles klar, Herr Kommandant“ grölen – den wohl bei allen Gelegenheiten gern fröhlich hupenden Türken zu verdanken. Und ganz zuallererst natürlich den Schweizern, die dafür sorgten, dass die türkische Mannschaft nicht dabei ist und insofern die „Zu-jemand-halten-Wütigen“ der deutschen Seite zuschlugen – und natürlich, ja selbstverständlich, ohne Wenn und Aber unser aller wunderbarsten Wunderheiler.
Frisch und munter sitzt er bei den Pressekonferenzen und die blank geputzten stahlblauen Augen blitzen wie Ü-Tüpfelchen aus seinem jungenhaft, wachsamen und gleichzeitig entspannten Gesicht. Mit genau der richtigen Dosis aus Ernst und Humor, Leichtigkeit und Kampfgeist wirkt er wie geradewegs aus einem ungemein teuren und sauguten kalifornischen Coachtraining entlassen, wo er in allen Sei-ganz-natürlich-Affirmations- und -Motivationskursen spitzenmäßig abgeschnitten hat und zuguterletzt noch in den Hot Springs von Esalen die illuminierenden Massagen empfing. Ja, eigentlich haben er und seine Kollegen in dieser perfekten Mischung aus authentischer Freundlichkeit und intelligentem Geschäftsbewusstsein etwas von weiterentwickelten Sanyassins.
So weit also alles schön. Wenn, ja wenn einem nicht ständig erzählt würde, wie schön alles ist und wenn auch endlich mal beim Auswärtigen Amt alles schön würde. Die bemühen sich nämlich redlich und angestrengt im Ausland darum, wenigstens noch ein bisschen vom alten Deutschlandbild zu erhalten und zu verbreiten. Ob reiselustige ältere Herren aus Persien, Fußballfans in Aserbeidschan, ein indischer Freund oder afrikanische Asphaltfußballer – die Gründe, warum wer dann doch nicht zu Gast bei Freunden sein darf, sind vielfältig, von zu geringer Verwurzelung im Heimatland bis zu wenig Geld auf dem Konto – und doch auf die einzige, große Sorge zu reduzieren, es könne jemand hier bleiben wollen. Und so erfahren dann diejenigen Deutschen, die Freundschaften in ärmeren Ländern schließen und ärmere Freunde einladen wollen, dass der Staat sich ihnen gegenüber verhält wie früher eklige Eltern, wenn ihre Söhne und Töchter unstandesgemäße Kinder mit nach Hause brachten.
„Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ oder Wen du einlädst, bestimme immer noch ich. Zwar nehmen die hiesigen Behörden gern das Geld für Verpflichtungserklärungen und Einblick in finanzielle und wohnliche Verhältnisse deutscher Gastgeber, und die deutschen Botschaften kassieren ohne Skrupel Visagebühren von Menschen, denen sie kein Visum geben – denn wessen Füße unter deutsche Tische gestreckt werden dürfen, bestimmt nicht etwa der, der für Gäste aufdecken möchte, sondern Vater Staat.
Welches Deutschland ist das echte? Das vierwöchige Spiel „Wir tun mal so wie one world – one voice“ oder die berüchtigte Enge und Angst, jemand könne an unsere Futtertröge drängen?
Die Antwort steht noch aus. Nach der WM ganz bestimmt. Vielleicht sollte ich vorher doch einmal hupend übern Ku’damm fahren. Zumindest Leyla würde sich ganz toll freuen.
Fotohinweis Renée Zucker lebt als freie Publizistin in Berlin.