High Noon in Buenos Aires

In Argentinien sinnen die Fans auf Rache für das verlorene WM-Finale gegen Deutschland 1990 in Italien – der damalige Elfmeter für die Deutschen gilt hierzulande als Betrug und Diebstahl

AUS BUENOS AIRES JÜRGEN VOGT

Seit Wochen treibt er den Argentiniern die Gänsehaut über den Rücken: Im Werbespot einer Mobilfunkfirma trainieren und spielen freizeitkickende Fußballer. Gespickt ist der geniale Trailer mit persiflierten Szenen aus WM-Turnieren und musikalisch unterlegt mit Gianna Nanninis „Un’ Estate Italiana“. Der Hit der 90er-WM lässt das Endspieltrauma von Rom wieder aufleben.

„Für mich geht es am Freitag gegen Deutschland um die Revanche für 1990. Damals haben sie uns den Titel gestohlen. Mit diesem unberechtigten Elfmeter.“ Mariel regt sich heute noch auf. Die 33-jährige Studentin spricht für ihre Generation. Sie fühlt sich nicht als Verliererin, sondern als Betrogene. „Nie werde ich die Bilder vom weinenden Maradona vergessen.“ Gabriel bestätigt: „1990, das war ein glatter Diebstahl!“ Der 30-Jährige arbeitet im Außenministerium. Die WM 1990 erlebten beide im besten Teenageralter: The first cut is the deepest!

Argentinien hatte den Erzfeind Brasilien geschlagen und seine Viertel- und Halbfinalspiele jeweils im Elfmeterschießen gewonnen. Als Brehme im Finale verwandelte, titelten in Buenos Aires die Zeitungen: „Wer mit Elfmeter tötet, wird durch Elfmeter sterben.“ Der Buhmann ist aber bis heute der mexikanische Finalschiedsrichter Edgardo Codesal. Gabriel bestätigt: „Codesal hat den Deutschen damals den Elfer geschenkt.“

„Klar, die Niederlage von 1990 schmerzt, aber das ist vorbei“, winkt dagegen der 65-jährige Marcelo ab. Er hat gerade seinen Kiosk im Stadtviertel Belgrano aufgemacht. Serafin, sein erster Kunde am Morgen und auch schon über sechzig, nickt: „Die WM in Italien ist Geschichte, das hier ist ein neues Turnier. Die Begegnung am Freitag wird schwer, Deutschland spielt fantastisch.“ Für diese Altersgruppe hat sich Rom erledigt.

Angst haben sie keine. „Respekt vor Deutschland: ja, Deutschland ist sehr stark. Aber ich vertraue auf die argentinische Mannschaft.“ Marcelo plagen andere Sorgen: „Die Fußballer in Lateinamerika leiden unter der schlechten Ernährung. Das zeigt sich in der Größe und körperlichen Verfassung der Spieler schon von klein auf. Nicht bei allen, aber bei vielen siehst du den Vorteil der Europäer.“ Ihn interessiert am Viertelfinale der Vergleich zwischen dem europäischen Fußball und dem Fußball in Lateinamerika. „Der europäische Fußball tut sich immer schwer mit dem argentinischen oder brasilianischen Spiel. Darin liegt unsere Chance.“

Diego Maradona vereint die Generationen. „Maradona ist einer aus dem Volk. Wenn er im Trikot auf der Tribüne sitzt, klatscht, singt und springt, dann ist er ein Hincha, einfach ein argentinischer Fan mehr im Stadion.“ Für Mariel ist das die pure Freude am Fußball. Für Marcelo ist Maradona ein Gefühl: „Das kannst du nicht analysieren und nicht erklären, Maradona ist einfach ein wunderbares Gefühl.“

In Gabriels Abteilung haben sie gesammelt und einen großen Bildschirm für den Pausenraum gekauft. Argentinienspiele während der Arbeit zu gucken ist erlaubt: „Bilaterale Beziehungen, Außenministerium eben …“ Alle Betriebe im Land mussten sich etwas einfallen lassen. Die WM findet am Río de la Plata tagsüber statt. Die Schulen werden am Freitag früher schließen. Ab zwölf wird das Land vor den Empfangsgeräten sitzen.

Und bei einer Niederlage? „Was soll dann passieren: ja, wir werden traurig, unendlich traurig sein, aber eine Staatskrise, ein Bankencrash? Quatsch!“, ist sich Marcelo sicher. Auch im Außenministerium wird nach der Begegnung normal weitergearbeitet, versichert Gabriel. Er werde mich nach der Partie anrufen. Bei einer Niederlage legt er dem Deutschen vielleicht die Ausreise nahe.

Am 9. Juli ist in Argentinien jedenfalls Nationalfeiertag. Da wollen sie den Titel feiern. Im Werbespot greift der Freizeit-Maradona schon mal nach dem Pokal. Und alle haben eine Gänsehaut: Vamos Argentina, vamos!