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Archiv-Artikel

Zauberer mit Übergewicht

Alle warten auf das Spektakel: Warum schenkt Brasilien der Welt diesmal nicht seine individuellen Innovationen?

Dem Spiel seiner Mannschaft fehle es an Tempo, hat Carlos Alberto Parreira nach dem glanzlosen 3:0-Sieg seiner Brasilianer gegen Ghana gesagt. Die Sorge über dieses offenkundige Problem hat nüchternen Begleitern des Weltmeisters bei aller Erleichterung ein paar tiefe Sorgenfalten auf die Stirn getrieben. Denn Tempo ist das Grundelement des modernen Fußballspiels – doch Brasilien lahmt, wirkt übergewichtig, überaltert, und unter dieser Last verlieren sogar Ronaldinho und Kaka ihren Zauber. Das Turnier hat ein Stadium erreicht, da würde es schon an ein Wunder grenzen, wenn diese Mannschaft der Welt so etwas wie ein Aha-Erlebnis verschaffen würde.

In diesen Tagen ereignet sich das Ende einer Ära: Dida, Cafu, Roberto Carlos, Emerson, Zé Roberto und Ronaldo sind Kandidaten für den Ruhestand. Sie sind keine Spieler mehr, mit denen sich der Fußball weiterentwickeln ließe. Das soll nicht heißen, dass Brasilien den Fußball ständig erneuern würde. Maßstab für die höchste Stufe der Kunst war Brasilien seit 1994 dennoch immer. Das ist nun anders.

Ricardo Setyon, renommierter Journalist aus Brasilien, kratzt sich am Kinn, als er mit der Frage konfrontiert wird, ob die Brasilianer bei dieser WM für Innovationen taugen. „Über so etwas denkt man bei uns nicht nach“, sagt er. Im Land des Rekordweltmeisters gelte es nicht, dem Fußball einen neuen Stil zu schenken, vielmehr wollten alle den guten alten brasilianischen Stil sehen: schnellen, technisch anspruchsvollen, individualisierten Kombinationsfußball. Spiele, die 5:2 statt 1:0 enden. Nicht umsonst wurde die Mannschaft in der Heimat für ihren taktisch geprägten Defensivfußball von 1994 verschmäht, obwohl sie Weltmeister wurde.

Setyon hat dann doch einen Einfall: Das vertikale Spiel Kakas sei etwas Neues. Diese geradlinige Überbrückung des Mittelfeldes, die dem jungen Spieler oft die Möglichkeit eröffnet, den Ball auf die Stürmer durchzustecken oder selbst aufs Tor zu schießen. Und das ist der Kern der brasilianischen Art, den Fußball zu erfinden. Die Südamerikaner schenken der Welt keine neuen taktischen Ideen. Sie geben der Welt ihre individuellen Innovationen, sie orientieren sich weniger daran, was die Welt macht, als daran, was ihre besten Spieler entwickeln.

Und Ronaldinho ist so etwas wie der Entwicklungschef. Ständig kommt er auf neue Dinge, die man mit dem Ball, dem Körper und dem Raum anstellen kann, vieles davon hat er im Spiel noch nie zur Anwendung gebracht. Er ist der König der Freestylefußballer, und er hat etwas wirklich Neues eingeführt: den Mut zum unmöglichen Trick. Nur ist er seiner Zeit derart voraus, dass die Folgen davon frühestens in vier Jahren bei der WM in Südafrika zu sehen sein werden.

In dieser brasilianischen Mannschaft trägt Ronaldinho die Last eines nicht funktionierenden Kollektivs. Dem vermeintlich besten Spieler der Welt fehlt bei diesem Turnier die Muße zur intuitiven Innovation. Die Brasilianer sind zu sehr mit sich selbst, ihrer mangelhaften Spielgeschwindigkeit und dem verpassten Generationswechsel beschäftigt. Armer Ronaldinho, armes Publikum. DANIEL THEWELEIT