Das In-der-Welt-Sein der Körper

HAND UND FUSS Michael Frieds Ausstellung über den pragmatischen Realismus in den Zeichnungen von Adolph Menzel in der Alten Nationalgalerie Berlin ist Teil der Berlin Biennale

Die essenden und sich waschenden Arbeiter der Zeichnungen sucht man in dem Gemälde

VON MICHAEL RUTSCHKY

Das war ein schöner Augenblick, als die Kuratorin Kathrin Rhomberg mit ihrem hastig und ängstlich verlesenen Statement endlich durch war bei der eröffnenden Pressekonferenz der Berlin Biennale und Michael Fried das Wort erteilte. Michael Fried, Jahrgang 1939, ein amerikanischer Herr mit leuchtendem Kahlkopf, erklärte in festen Sätzen, was ihn bei der herrlichen Aufgabe, aus den Berliner Beständen eine Auswahl von Menzels Zeichnungen zu treffen, geleitet habe: dass Menzels „extremer Realismus“ – eine Formel des zeitgenössischen französischen Kritikers Edmond Duranty – keiner der Augen, der Sichtbarkeit sei, vielmehr ein gleichsam pragmatischer, einer des Körpers in der Welt.

So beginnt die Ausstellung auf eine Stellwand in dem Saal der Alten Nationalgalerie Berlin, der mit den Gemälden „Eisenwalzwerk“ und „Ansprache vor der Schlacht bei Leuthen“ ausgestattet ist, mit Menzels Zeichnungen (und Gouachen) seiner Füße und Hände, die körperliche Anstrengung verraten: Es ist unverkennbar Menzels rechte Hand, die den Farbnapf respektive das Buch hält, er muss also mit der linken gezeichnet/gemalt haben.

Ein Flyer enthält so etwas wie ein Vorwort Michael Frieds zur Ausstellung. Die Sache ist aber die, dass er ein großes Buch geschrieben hat, das auch auf Deutsch vorliegt – „Menzels Realismus“, Wilhelm Fink 2008 – , worin er diese Gedanken mit größter Sorgfalt, ja Zärtlichkeit ausarbeitet. Menzel war kein französischer Impressionist, den seine preußischen Loyalitäten an der vollen Entfaltung hinderten – wozu ihn seine Bewunderer, vor allem die Bewunderer seiner „privaten Bilder“ erklärten (gleich können Sie von Frieds Ausstellung die paar Stufen zu den kleineren Menzel-Räumen hinaufsteigen und vor dem „Balkonzimmer“ wieder mal still mit den Tränen kämpfen) – nein, sagt Michael Fried, dasselbe bildnerische Interesse an Körpern, die sich unter Mühe und Aufwand im Raum bewegen, leitet Menzel bei den Darstellungen aus der preußischen Geschichte. Wenn Sie sich umdrehen, sehen Sie die Schneelandschaft mit der „Ansprache vor der Schlacht bei Leuthen“, und wenn Sie Michael Frieds Buch gelesen haben, geht Ihnen der Kürassiergeneral Lentulus, der seinen dicken Pelz, weil er ihm heruntergerutscht ist, wieder auf die rechte Schulter zu zerren sucht, nicht mehr aus dem Sinn.

Das Eisenwalzwerk führt in dieselbe Welt. Fried zeigt Zeichnungen essender und sich waschender Arbeiter, die man auf dem Gemälde sofort wiederzufinden sucht. Einfühlung nennt Fried das Konzept, dem Menzel hier folge, und er zitiert deutsche Ästhetiker des 19. Jahrhunderts – Robert Vischer, Heinrich Wölfflin, August Schmarsow – , die Einfühlung nicht als affektives Verstehen des anderen (so der aktuelle Sprachgebrauch), sondern als körperliches Sichhineinversetzen entwickeln.

„Wären wir bloß optisch auffassende Wesen“, schreibt Wölfflin, „so müsste uns eine ästhetische Beurteilung der Körperwelt stets versagt bleiben. Als Menschen aber mit einem Leibe, der uns kennen lehrt, was Schwere, Kontraktion, Kraft usw. ist, sammeln wir an uns die Erfahrungen, die uns erst die Zustände fremder Gestalten mitzuempfinden befähigen.“

Hierher gehören Menzels Zeichnungen von Fahrrädern, Geigen, der Farbnapf, den Menzel, wie Fried zeigt, nicht waagerecht hält, vielmehr kippt, sodass Farbrinnsale herauslaufen, und weiterer Gerätschaften, mittels deren der Körper sein In-der-Welt-Sein realisiert. Frieds philosophische Gewährsleute sind der französische Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty und, ja, Martin Heidegger, dem er eine pragmatistische Wendung gibt.

Hierher gehören auch Menzels Zeichnungen von Leichen, gefallenen Soldaten in einer Scheune ebenso wie der verrottende Körper des Feldmarschalls Keith. Dessen Sarkophag in der Garnisonkirche öffnete man, um ihn samt anderen bedeutenden friderizianischen Offizieren in die Hohenzollerngruft des Berliner Doms umzubetten: Preußenkult, flüsterte eine Kollegin, sieht anders aus. Hierher gehört die schwindelerregende Perspektive, die Menzel gern in obersten Etagen, auf Dächern, vor Baugruben – vor Abstürzen also – dem Betrachter aufnötigt.

Besonders eindrucksvoll (und genau) entspricht Michael Frieds Menzel-Theorien die Gouache mit Kronprinz Friedrichs Besuch beim Maler Pesne in Rheinsberg. Oben auf dem Gerüst tänzelt der Maler mit ausgebreiteten Armen vor einer halbnackten Dame herum, und daneben konnte Fried die fleckige Skizze hängen, die Menzel haargenau in dieser Pose und mit einem Pinsel quer im Mund zeigt. Michael Frieds Lektüre des überraschend kleinformatigen Bildes gehört neben der von „Hinterhaus und Hof“ – für das Sie die paar Stufen zu den Menzel-Räumen der Alten Nationalgalerie hinaufsteigen können – zu den Glanzstücken des Buchs. Seine Ausstellung endet in einem Seitengang mit den späten Nahaufnahmen alter Frauen- und Männerköpfe in unlesbaren Konstellationen.

Gehen Sie also hin und gönnen Sie sich diesen Augenschmaus. Und lesen Sie Michael Frieds Menzel-Buch zum Beweis, dass es Kunstwissenschaft und -kritik jenseits von lustlos-hermetischer Kuratorenprosa gibt.

■ Bis 8. August, Alte Nationalgalerie, Berlin