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Archiv-Artikel

„Dortmund braucht keine Hilfe“

Ohne den Fußball würde das Revier eine großen Teil seines Glamours verlierenDie Deutschen vertragen es vielleicht nicht, wenn sie zu oft siegen

INTERVIEW: ANNIKA JOERESUND HOLGER PAULER

Das Café Max in Dortmund. Wir treffen den Dortmunder Musiker Phillip Boa, um mit ihm über die WM in seiner Heimatstadt zu reden. „Ich bin zwar kein Profi, aber was soll‘s.“ Wir gehen ins Hinterzimmer. Schummriges Licht, Dub vom Band und DAB vom Fass. „Bitte keine Fotos“, zumindest nicht beim Interview – hinterher klappt‘s trotzdem. Mit dem Interview und mit den Fotos.

taz: Herr Boa, verlassen Sie während der WM Ihre Heimatstadt Dortmund oder genießen Sie die Stimmung?

Phillip Boa: Ich war kürzlich erst in Berlin bei meiner Plattenfirma – ich wurde zum Fußballkucken eingeladen. Ich sehe fast jedes Spiel. Bei Freunden oder zuhause. Die meisten Spiele sehe ich natürlich in meiner Heimatstadt.

Waren Sie auch im Stadion?

Ich gehe nur selten ins Stadion. Auch zu Bundesligazeiten. Dort sind mir zu viele Menschen. Es hängt von meiner Tagesform ab, ob ich ins Stadion gehe. Ich bin BVB-Fan und war mit meinem Großvater schon im Stadion Rote Erde. Aber 80.000 Zuschauer im Westfalenstadion machen mir Angst.

Wie wirken die vielen Fans in den Fanmeilen auf Sie?

Dort ist alles sehr eng, die Menschen werden zusammengepfercht. Es wird vorgeschrieben, welche Richtung sie gehen sollen. Sie bekommen so nichts von der Stadt mit.

Was verpassen die Leute?

Sie sehen nicht den wirklichen Charakter der Stadt. Dortmund oder das Ruhrgebiet haben hässliche Ecken. Aber das gehört dazu. Auch bei einer WM. Leider wird von den Politikern versucht, die Realität auszublenden.

Was fasziniert Sie an der Hässlichkeit?

Es ist der natürliche Verfall, der das Leben widerspiegelt. Zur WM sind sehr viele Bahnhöfe aufgemotzt worden. Gelsenkirchen hat einen neuen Hauptbahnhof, der neue, sterile Hauptbahnhof in Berlin wurde eben erst fertig gestellt. Das alles gaukelt den Gästen ein völlig falsches Bild vor. Ich finde den Bahnhof Zoo oder den alten Dortmunder Bahnhof schöner.

Laut einer Umfrage fühlen sich die ausländischen Besucher in Gelsenkirchen und Dortmund wohler als in den anderen WM-Städten. Wie erklären Sie sich das?

Wir behandeln Gäste wie Gäste. Anfangs ist der Ruhrgebietler vielleicht ein wenig skeptisch, hinterher gibt er sich aber weltoffen und sehr direkt. Die Gäste sind beeindruckt, im Land herrscht aber eine andere Meinung. Die alten Klischees über das Ruhrgebiet funktionieren Jahrzehnte nach dem Zechensterben immer noch.

Wie drückt sich das aus?

Kürzlich hatte ich ein Interview in der Süddeutschen Zeitung. Ich wollte dem Reporter auch die unbekannten Seiten von Dortmund zeigen. Das ging völlig in die Hose. Er hat geschrieben, wie hässlich Dortmund ist. Das hat einen Skandal ausgelöst. Später musste ich mich in den lokalen Medien und vor meinen Bekannten dafür rechtfertigen. Das hat mir sehr weh getan.

Im vergangenen August traf Phillip Boa den Journalisten Joachim Lottman. Die SZ wollte eine Geschichte zur neuen CD „Decadence & Isolation“ machen. „Müssen wir uns HIER treffen?“, schrieb Lottmann. Boa zeigte seinem Gast die Stadt Dortmund – von ihrer derbsten Seite. „Wir fahren an einem an sich schönen, modernen RWE-Gebäude vorbei, sehr hoch, komplett aus schwarzem Marmor und kreisrund, aber unten ist die Straße aufgerissen, liegt Gerümpel herum, Müll, muffeln geschlossene türkische Reisebüros und seltsame Wirtschaftszweige vor sich hin...“, schrieb Lottmann. „Soweit das Auge reicht nur tote Häuser, Leerstand.“ In der Stadt, in der Phillip Boa auch viele Jahre nach seinen letzten Erfolgen durchaus bekannt ist, schrillten die Alarmglocken. Politiker, Freunde, selbst die lokalen Medien meldeten sich zu Wort. Boa musste sich rechtfertigen und entschuldigen. Ganz so schlimm war es dann aber doch nicht: „Dortmund ist WM-Stadt. Das ist natürlich die einzige Hoffnung für die ganze Region“, sagte Boa damals. Und heute?

Wird die WM das Image der Stadt verändern?

Es wurden Millionen in die Stadt und die Region gesteckt. 2007 ist das Geld wieder weg. Aber das ist nicht unbedingt schlimm. Dortmund braucht keine Hilfe.

Also hat die WM keine nachhaltige Bedeutung für Dortmund?

Es ist schön, dass es hier passiert. Ich freue mich auch persönlich. Die WM tut gut. Beim Fußball geht es ja tatsächlich um die ganze Region. Ohne den Fußball würde das Revier eine großen Teil seines Glamours verlieren.

Wie drückt sich der Glamour aus?

Fußball ist Lebenssinn. Die Leute leben den Sport. In Dortmund, Bochum oder in Gelsenkirchen.

Die Fifa dreht seit Jahren an der Kommerzschraube. Passt denn das aufgeblasene Event überhaupt hier hin?

Die Fifa ist ein Haufen Schrott. Die meisten Fans interessiert das nicht.

Wie beurteilen Sie die Begeisterung im Land?

Sie ist aufgesetzt. Die Nordeuropäer sind eigentlich zurückhaltend – auch im Fußball. Nach der WM wird sich das alles wieder relativieren. Die Deutschen vertragen es vielleicht nicht, wenn sie zu oft siegen. Aber Angst macht mir das nicht wirklich. Bislang ist alles friedlich und so wird es hoffentlich bleiben.

Das Interview ist holprig. Die jüngsten Erfahrungen mit Presse und Co haben Phillip Boa vorsichtig werden lassen. Er wägt jedes Wort ab, entschuldigt sich für längere Pausen. Kein Problem. Am Ende ist dann doch alles im Kasten. Als der Kassettenrekorder ausgeschaltet ist, kommen wir auf Malta zu sprechen. Boa nimmt seit vielen Jahren seine Platten auf der Mittelmeer-Insel auf. Dort hat er seine zweite Heimat gefunden. Er vergleicht den „leicht kaputten, spröden Charme“ der Insel gerne mit dem Ruhrgebiet. „Es ist keine vordergründige Schönheit“, so Boa. Man müsse sich schon darauf einlassen, um den wahren Charakter zu erkennen.

Was halten Sie von den Kollegen, die zur WM Lieder komponiert haben. Sportfreunde Stiller oder Herbert Grönemeyer gehören zum WM-Inventar.

Die meisten Fußballsongs wären beim Karneval oder im Bierzelt besser aufgehoben.

Haben Sie mal darüber nachgedacht, einen Song beizusteuern?

Nein!

Woran liegt es, dass es in England eine engere Verbindung zwischen Musik und Fußball gibt. Über Punk, Wave bis hin zu Britpop.

Schwierig zu sagen. New Order haben eine Hymne zur EM 1996 in England komponiert, die Lightning Seeds auch. Die Songs wurden ja auch von den deutschen Fans übernommen. Der Song Three Lions“ mit den Zeilen „Football‘s coming home“ wird auch in deutschen Stadien gesungen. Es gibt aber auch andere Beispiele. Mein Keyboarder hat in den 90ern die Hymne „Borussia“ für den BVB komponiert. Das Lied läuft vor jedem Spiel.

Treten Sie während der WM auf?

Nein. Im Spätsommer gibt es eine Tournee mit alten Songs. Meine Plattenfirma bringt demnächst drei alte Platten neu heraus. Daraus werden wir unser Programm gestalten

Für wen schlägt Ihr Herz?

Erstens Deutschland, zweitens England, drittens Frankreich, weil ich ein viertel Franzose bin.